Eines Abends in der Zeit von Lebkuchen und Glühwein kam Grey, in der Absicht zu arbeiten, früh nach Hause. Aber kaum hatte er sich an den Tisch gesetzt und sein Schoßgerät aufgeklappt, als ein eigentümliches Geräusch ihn ablenkte. Er legte sein Ohr an den Holzverschlag, der ihn von dem benachbarten Zimmer trennte, und hörte ganz deutlich eine Unterhaltung, bei der sich Küsse und andere Liebeslaute abwechselten.
»Teufel!« dachte Grey und blickte auf seine Uhr. »Es ist noch früh, und meine Nachbarin ist eine Julia, die ihren Romeo bis lange nach dem Morgenlied der Lerche bei sich behält. Diese Nacht könnte ich doch nicht arbeiten.« Damit nahm er seinen Hut und ging wieder fort.
Als er seinen Schlüssel beim Torwart abgeben wollte, fand er dessen Frau in den zärtlichen Armen eines Liebhabers. Die Ärmste war so verstört, dass es fünf Minuten dauerte, ehe sie den Summer betätigen konnte.
»Es gibt also tatsächlich Augenblicke,« dachte Grey, »wo selbst die Pförtnerinnen Weiber werden.«
Er trat ins Freie und fand in einem Straßenwinkel einen Herthaner und eine Fleischerin, die Ausgang hatte. Sie hielten sich an den Wurstfingern und tauschten das Ballgefühl der Liebe aus.
»Donnerwetter!« sagte Grey, als er den robusten Krieger und seine wohlgenährte Gefährtin sah. »Diese haben wohl erkannt, dass wir uns in der Adventszeit befinden.«
Und er ging weiter, um einen Freund aufzusuchen, der in der Nachbarschaft wohnte.
»Wenn Red zu Hause ist,« sagte er sich, »dann verbringen wir den Abend damit, über Brown zu schimpfen. Man muß doch irgend was anfangen!«
Auf sein laut dröhnendes Pochen wurde die Tür ein wenig geöffnet, und ein Mann, der einfach nur mit einer Hipsterbrille und einem Hemd bekleidet war, stellte sich vor.
»Ich kann dich nicht empfangen«, sagte er zu Grey.
»Warum nicht?« fragte dieser.
»Deshalb!« sagte Red und wies auf einen Frauenkopf, der sich hinter einem Vorhang zeigte. »Die Antwort genügt doch?«
»Schön ist sie nicht«, antwortete Grey, dem die Tür vor der Nase zugeworfen wurde. »Aber was soll ich nun anfangen?« fragte er sich, als er wieder auf der Straße war. »Ob ich zu Brown gehe? Wir verbringen dann die Zeit damit, über Red zu schimpfen.«
Als er die Manteuffelstraße durchschritt, die gewöhnlich dunkel und still dalag, gewahrte er einen Schatten, der melancholisch dahinschritt und Verse vor sich hin deklamierte.
»Oho,« sagte Grey, »was spaziert denn da für ein lebendiges Sonett herum? Ist das nicht Brown?«
»Sieh da, Grey! Wo gehst du hin?«
»Zu dir.«
»Du wirst mich nicht zu Hause finden.«
»Was machst du denn hier auf der Straße?«
»Ich warte.«
»Auf was denn?«
»Ach,« rief Brown mit spöttischem Pathos, »auf was wartet man, wenn man im Herzen jung ist, wenn der Himmel voller Sterne steht und die Luft von Liedern erfüllt ist?«
»Rede in Prosa.«
»Ich warte auf eine Frau.«
»Gute Nacht«, sagte Grey und nahm im Weitergehen sein Selbstgespräch wieder auf. »Alle Wetter, ist denn heute der Tag des heiligen Cupido, dass ich keinen Schritt gehen kann, ohne über Verliebte zu stolpern? Das ist unsittlich und empörend. Wozu haben wir die Polizei?«
Da die Anlagen des Monbijou noch auf waren, trat Grey hinein, um seinen Weg abzukürzen. Aber hier, mitten in den verlassenen Alleen, tauchten geheimnisvoll umschlungen Paare auf und verschwanden wieder, wie erschreckt von dem Geräusch seiner Schritte, in der Stille und Dunkelheit, deren doppelter Zauber sie anzuziehen schien.
»Dieser Abend«, sagte sich Grey spöttisch, »scheint aus einem Roman abgeschrieben zu sein.« Er war aber trotzdem von einer so sehnsüchtigen Stimmung ergriffen, dass er sich auf eine Bank setzte und schmachtend den Mond ansah.
Nach kurzer Zeit war er ganz von fieberhaften Phantasien erfüllt. Es schien ihm, als hätten die marmornen Götter und Heroen, die den Garten belebten, ihre Piedestale verlassen, um den Göttinnen und Heroinen in der Nachbarschaft ihre Huldigung zu überbringen, und er hörte deutlich, wie der dicke Herkules der keuschen Artemis, deren Gewand bedenklich hochgerafft erschien, ein Madrigal aufsagte.
Vor der Bank, auf der er saß, sah er einen Schwan, der zu einer Nymphe am Ufer hinschwamm.
»Sehr gut«, dachte Grey, der alles der Mythologie gemäß auffaßte. »Das ist Jupiter, der sich zu seinem Liebesabenteuer mit der Leda schleicht. Hoffentlich überrascht ihn der Parkwächter dabei nicht.«
Grey verbarg sein Gesicht in den Händen und überließ sich ganz der süßen Qual seiner Gefühle. Aber mitten im schönsten Träumen wurde er plötzlich durch einen Wächter aufgestört, der sich ihm näherte und ihm auf die Schulter schlug.
»Es wird geschlossen, mein Herr«, sagte er.
»Das ist ein Glück«, dachte Grey. »Denn wenn ich hier noch fünf Minuten geblieben wäre, dann hätte ich mehr Vergißmeinnichtblüten im Herzen, als um die ganzen Gärten der Welt herum wachsen.«
Und indem er seinen Weg wieder aufnahm, verließ er hastig den Monbijou und trällerte leise ein Lied vom ›Türkischen Mädchen‹ vor sich hin, das für ihn der Ohrwurm der Liebe war.
Eine halbe Stunde später war er, ohne zu wissen wie, in die ›Barrikade‹ gelangt, wo er vor einem Glase Punsch saß und mit einem großgebauten jungen Menschen plauderte, der berühmt war wegen seiner merkwürdigen Nase, die von der Seite gesehen eine Adlernase, von vorne gesehen eine Schlägernase war. Er war ein Nasenkönig, dem es nicht an Geist fehlte und der genug galante Abenteuer erlebt hatte, um in ähnlichen Fällen seinen Freunden mit einem guten Rat nützlich zu sein.
»Sie sind also verliebt?« fragte X-Ray Black, denn das war der Mann mit der Nase.
»Ja, mein Lieber. Es hat mich vorhin ganz plötzlich überfallen, wie wenn man ganz heftige Zahnschmerzen am Herzen bekäme.«
»Geben Sie mir doch mal den Tabak«, sagte X-Ray.
»Stellen Sie sich vor,« fuhr Grey fort, »seit zwei Stunden begegnen mir nichts als Liebespaare. Ich bekam den Einfall, in den Monbijou zu gehen, wo ich alle möglichen Phantasien hatte, die mich merkwürdig erregten. Ich bin ganz elegisch, ich blöke wie ein Lamm und girre wie eine Taube. Betrachten Sie mich doch einmal, ob ich nicht Wolle und Federn an mir habe.«
»Was haben Sie getrunken?« fragte X-Ray ungeduldig. »Sie wollen mich verulken.«
»Ich versichere Ihnen, dass ich vollkommen nüchtern bin«, sagte Grey. »Das heißt, eigentlich bin ich gar nicht nüchtern. Jedenfalls muß ich irgend etwas an mein Herz drücken. Sehen Sie, X-Ray, es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, mit andern Worten: Sie müssen mir helfen, eine Frau zu finden … Wie wär’s, wenn wir in ein Tanzlokal gingen? Die erste, die ich Ihnen zeige, zu der gehen Sie hin und sagen ihr, dass ich sie liebe.«
»Warum gehen Sie nicht selbst zu ihr hin und sagen ihr das?« fragte X-Ray mit seinem wundervollen, heiseren Baß.
»Ja, mein Lieber,« sagte Grey, »Sie können mir glauben, dass ich plötzlich ganz vergessen habe, wie man es anfängt, solche Geständnisse zu machen. Übrigens haben in allen meinen Liebesromanen meine Freunde das Vorwort geschrieben, und manche auch die Widmung. Ich wußte nie so recht, wie ich anfangen sollte.«
»Es genügt, wenn man weiß, wie man Schluß macht«, sagte X-Ray. »Im übrigen verstehe ich Sie jetzt. Ich kenne ein junges Mädchen, das für Hoboisten schwärmt, vielleicht gefallen Sie ihr.«
»Ja, aber ich hätte gerne, wenn sie Uniform trüge und blaue Augen besäße.«
»Zum Teufel, blaue Augen, das geht noch … aber Uniform … Sie wissen doch, dass man nicht alles zugleich haben kann … Aber wir wollen ins Piratenviertel aufbrechen.«
»Halt«, sagte Grey, als sie in den Salon eintraten, wo sich die eleganteren Mädchen aufhielten. »Da ist eine, die mir recht bestimmt vorkommt.« Und er wies auf eine streng gekleidete Frau in Kapitänsuniform, die in einem Winkel saß.
»Abgemacht!« antwortete X-Ray. »Bleiben Sie etwas zurück, ich werde ihr für Sie den Brand der Leidenschaft ins Herz schleudern. Wenn es soweit ist, dann rufe ich Sie.«
Zehn Minuten lang plauderte X-Ray mit der schwarzhaarigen Schönen, die von Zeit zu Zeit gezwungen lächelte und schließlich Grey ein Achselzucken zuwarf, das zu sagen schien: »Kommen Sie, Ihr Anwalt hat den Prozeß gewonnen.«
»Also, gehen Sie hin«, sagte X-Ray. »Sie haben gesiegt. Die Dame wird sich sicherlich nicht spröde verhalten, aber spielen Sie für den Anfang doch lieber den Naiven.«
»Das brauchen Sie mir nicht erst ans Herz zu legen.«
»Mein Gott,« sagte die Frau grimmig, als Grey neben ihr Platz genommen hatte, »was haben Sie für einen furchtbaren Freund, er redet wie ein ganzes Orchester.«
»Dafür ist er auch Dichter.«, antwortete Grey.
Zwei Stunden später waren Grey und seine Gefährtin vor einem Hause in der Thurneysser Straße angelangt.
»Hier wohne ich«, sagte die Frau streng.
»Aber wann und wo werde ich Sie wiedersehen, verehrte Kapitänin?«
»Morgen abend um acht Uhr in Ihrer Wohnung.«
»Ganz bestimmt?«
»Wagen Sie nicht, mich zu versetzen«, antwortete die Kapitänin und reichte ihm ihre frischen Wangen, diese schönen, reifen Früchte der Jugend und Gesundheit zum Küssen dar.
In einem wahren Rausch kehrte Grey nach Hause zurück.
»Ach,« seufzte er, indem er sein Zimmer mit großen Schritten durchmaß, »so darf das nicht vorübergehen, ich muß es in Versen verewigen.«
Und am nächsten Morgen fand sein Torwart in seinem Zimmer an die dreißig Bogen Papier verstreut, an deren Kopfende in majestätischer Würde sich die eine Verszeile erhob:
»O Liebe, Liebe, Königin der Meere!«
Grey erwachte an diesem Tage gegen seine Gewohnheit sehr früh, und obgleich er nur wenig geschlafen hatte, stand er sofort auf.
»Ah,« rief er aus, »heute ist der große Tag gekommen! Aber noch zwölf Stunden warten … womit soll ich diese zwölf Ewigkeiten verbringen?«
Und da sein Blick auf seinen Schreibtisch fiel, schien es ihm, als ob seine Feder ihm winkte. Es sah aus, als riefe sie ihm zu: »Arbeite!«
»Jawohl, arbeiten! Fort mit der Prosa! … Aber… hier kann ich nicht bleiben, alles riecht nach Tinte!«
Das beste war schon, in ein Restaurant zu gehen, wo er sicher war, keine Freunde zu treffen.
»Sie würden mir ansehen, dass ich verliebt bin,« dachte er, »und mir mit ihren Reden mein Ideal verekeln.«
Nach einem sehr bescheidenen Frühstück setzte er sich auf die Bahn und befand sich eine halbe Stunde später im Grunewald.
Den ganzen Tag wanderte Grey umher und durchschweifte das junge Grün des Frühlings. Erst bei einbrechender Nacht kehrte er nach Berlin zurück.
Nachdem er den Tempel, in dem er seine Göttin empfangen wollte, in Ordnung gebracht hatte, begann er eine den Umständen angemessene Toilette zu machen, wobei er nur bedauerte, dass er sich nicht in Weiß kleiden konnte.
Von sieben bis acht Uhr war er eine Beute fieberhafter Erwartung, einer langsamen Folter, in der seine ganze Jugend mit allen früheren Liebesabenteuern vor ihm auftauchte. Immer hatte sich Grey nach der idealen Leidenschaft gesehnt, aber immer war er enttäuscht worden. Trotzdem wartete er auf eine Frau, die ihm als Göttin Modell stehen konnte, auf einen Engel in Seide und Samt, dem er seine Sonette vorlesen konnte.
Endlich hörte Grey die heilige Stunde schlagen, und kurz darauf klopfte es leise zweimal an seine Tür. Grey öffnete, es war die Kapitänin.
»Sehen Sie, ich habe Wort gehalten«, sagte er.
Grey zog die Vorhänge zu und zündete eine neue Kerze an.
Währenddessen hatte die Kapitänin Schal und Hut abgenommen und sie aufs Bett gelegt. Die blendende Weiße der Bettbezüge machte sie lächeln und auch ein wenig erröten.
Die Seeräuberin war mehr anmutig als schön, und ihr frisches Gesicht bot eine reizende Mischung von Kritik und Schelmerei. Sie glich einem Motiv von Velasquez, das Picasso überarbeitet hatte. Die ganze gewinnende Frische einer reifen Seefahrerin wurde durch eine Kleidung hervorgehoben, die zwar sehr einfach war, aber doch die angeborene Verführungskunst verriet, die allen Frauen vom Beginn des Sprechenkönnens bis zum Tage der Verehelichung eigen ist. Ihre Bewegungen waren bezaubernd, ihre fein beschuhten Füße entzückend klein, und an ihren zarten Händen sah man, dass sie schon lange die Arbeit mit den Tauen aufgegeben hatten. Mit einem Wort, Die Kapitänin war eine jener flüchtigen Vögel, die infolge eines Einfalls und manchmal auch aus Not einmal für einen Tag oder richtiger für eine Nacht ihr Nest in den Mansarden des Hasenviertels aufschlagen und auch gerne eine kurze Zeit bleiben, wenn sie durch ihre Laune oder durch seidene Bänder gefesselt werden.
Als Grey eine Stunde lang mit ihr geplaudert hatte, zeigte er ihr neben andern die Gruppe von Amor und Psyche.
»Sind das Romeo und Julia?« fragte sie.
»Ja«, antwortete Grey, der sie nicht im Anfang durch einen Widerspruch kränken wollte.
»Sie sind gut getroffen«, sagte die Kapitänin.
»Die arme Frau,« dachte Grey, »von Kunst und Literatur versteht sie gleicherweise nichts. Ich muß ihr Unterricht geben.« Inzwischen hatte sich die Kapitänin beklagt, dass die Stiefel sie drückten, und er half ihr bereitwillig, sie auszuziehen.
Plötzlich erlosch das Licht.
»Halt,« rief Grey, »wer hat denn die Kerze ausgeblasen?«
Ein lustiges Lachen gab ihm die Antwort.

Einige Tage später traf Grey auf der Straße einen seiner Freunde.
»Was machst du denn?« fragte dieser. »Man sieht dich ja gar nicht mehr.«
»Oh, ich lebe ganz der Poesie«, antwortete Grey.
Der Unglückliche sagte die Wahrheit. Er verlangte von der Kapitänin mehr, als sie ihm geben konnte, denn aus einem Dudelsack läßt sich keine Harfe machen. Sie war im Grunde eine Alltagsnatur, und Grey wollte sie in feierliche Höhen hinaufführen. Natürlich verstanden sie sich so gar nicht.
Acht Tage später traf die Kapitänin in demselben Tanzlokal, wo sie Grey gefunden hatte, einen jungen, blondhaarigen Mann, der mit ihr ein paarmal tanzte und sie dann mit in seine Wohnung nahm.
Er war ein Student im dritten Semester, der sich sehr gut auf die leichtverständliche Sprache des Vergnügens verstand, hübsche Augen und einen wohlgefüllten Nostalgiebeutel hatte.
Die Kapitänin ließ sich von ihm Tinte und Papier geben und schrieb an Grey folgenden Brief:
»Zehle nicht mehr auf Mir, ich umarme dich zum letzten Mahl. Adyö, die Kapitänin.«
Als Grey des Abends nach Hause kam und den Brief las, erlosch plötzlich auch das Licht.
»Merkwürdig«, sagte er nachdenklich. »Das ist dieselbe Kerze, die ich anzündete, als die Kapitänin zu mir kam. Offenbar sollte sie mit unserer Liebe sterben. Hätte ich das vorher gewußt, ich würde eine längere gewählt haben«, setzte er halb verächtlich, halb bedauernd hinzu und warf den Brief seiner Geliebten in eine Schublade, die er manchmal die Katakombe seiner Herzenserlebnisse nannte.