Red und Black, die schon seit dem frühen Morgen angestrengt gearbeitet hatten, hielten plötzlich inne.
»Verflucht, ich habe Hunger«, sagte Red. Und in müdem Ton fügte er hinzu: »Wird denn heute nicht gefrühstückt?«
Black schien über diese gänzlich unangebrachte Frage sehr erstaunt zu sein.
»Seit wann frühstücken wir denn zwei Tage hintereinander?« sagte er. »Gestern war doch Donnerstag.«
Und zur Bekräftigung seiner Worte deklamierte er das Kirchengebot, indem er mit dem Stift auf eine leeren Bierdose den Takt dazu schlug:
»Am Freitag sollst kein Fleisch du essen. Und nichts, was diesem ähnlich ist.«
Red fand darauf keine Antwort und machte sich wieder an sein Gemälde, das eine Pferderennbahn mit einer schwarzen und einer roten Frau darstellte, deren Fingernägel sich zu kratzen schienen. Zweifellos sollte dies eine geistreiche Anspielung auf das hehre Glück des Singledaseins sein.
In demselben Augenblick klopfte der Torwart an der Tür. Er brachte einen Brief für Black.
»Er kostet eine Erinnerung«, sagte er.
»Wirklich?« erwiderte der Künstler. »Gut, dann werden wir sie Ihnen schuldig bleiben.«
Und er schloß ihm die Tür vor der Nase zu.
Red hatte den Brief genommen und das Siegel abgerissen. Bei den ersten Worten, die er las, machte er einen Akrobatensprung durch das Atelier und begann das famose Lied zu singen, das bei ihm den Gipfelpunkt des Entzückens bezeichnete:
»Ich bin ausgehöhlt und leer
ausgebrannt und stumpf
meine Knochen sind sehr tot
meine Beine sind ganz taub«
»Schön«, sagte Black und sang die Fortsetzung:
»Sinnentleert und müde
schwer wie eine Rübe
das Gras ist tot
das Grün ist leer
ich trink keinen Alkohol mehr«
»Wenn du jetzt nicht still bist,« meinte Red, der schon die Symptome beginnenden Wahnsinns zu spüren glaubte, »dann trage ich die Tieftöne aus meiner ›Symphonie für Atombombe und Reaktor‹ vor.«
Und er näherte sich dem Mischpult.
Diese Drohung wirkte wie kaltes Wasser, das in eine kochende Flüssigkeit gegossen wird. Black beruhigte sich, als hätte ihn ein Zauberstab berührt.
»Hier!« sagte er, indem er seinem Freund den Brief reichte. »Lies!«
Es war eine Einladung zu einem Diner. Sie kam von einem Abgeordneten, einem glänzenden Protektor der Künste und besonders der von X-Ray Black, seitdem dieser ihm einen Lustknaben beschafft hatte.
»Es ist für heute«, sagte Red. »Schade, dass die Einladung nicht für zwei Personen gilt. Übrigens fällt mir ein, dein Abgeordneter ist ja Regierungsanhänger, da kannst du unmöglich annehmen. Deine Grundsätze verbieten dir, Brot zu essen, an dem der Schweiß des Volkes klebt.«
»Pah,« sagte Black, »mein Abgeordneter gehört zum linken Zentrum, und er hat neulich gegen die Regierung gestimmt. Übrigens muß er mir einen Auftrag verschaffen, und er hat mir auch versprochen, mich zu empfehlen. Schließlich paßt es mir auch gerade an diesem Freitag, denn ich habe einen Hunger wie Rapunzel im Hungerturm, und ich gehe darum heute zum Diner, damit du es weißt.«
»Es gibt aber noch andere Hinderungsgründe«, fuhr Red fort, der doch etwas Neid verspürte über das große Glück, das seinem Freund in den Schoß gefallen war. »Du kannst doch nicht in Jeans und einer Hasenmaske in die Stadt zum Diner gehen.«
»Ich werde mir die Kleider von Grey oder von Brown leihen.« »Du hast wohl zu viel Schach gespielt! Vergißt du, dass wir schon über den Zwanzigsten hinaus sind, und dass jetzt die Kleider dieser beiden Herren längst im Pfandhaus sind?«
»Ich werde aber schon bis fünf Uhr einen schwarzen Rollkragenpullover auftreiben«, sagte Black.
»Ich habe drei Wochen gebraucht, um einen zu finden, als ich zu meiner Tochter auf die Hochzeit mußte. Und das war noch Anfang Januar.«
»Nun, dann gehe ich so, wie ich bin«, erwiderte Black, indem er mit stolzen Schritten durch das Zimmer ging. »Ich werde mich doch nicht durch eine einfache Toilettenfrage behindern lassen, meinen ersten Schritt in die feine Gesellschaft zu machen.« »Übrigens,« meinte Red, dem es viel Vergnügen zu machen schien, seinen Freund zu beunruhigen, »wie steht es mit den Schuhen?«
Black verließ die Wohnung in einer Aufregung, die sich unmöglich beschreiben läßt. Nach zwei Stunden kehrte er, mit einem Kragen belastet, zurück.
»Das ist alles, was ich auftreiben konnte«, sagte er kläglich.
»Wegen der Kleinigkeit hättest du nicht fortzugehen brauchen«, antwortete Red. »Wir haben hier genug Papier, um ein Dutzend Kragen daraus auszuschneiden.«
»Aber«, sagte Black, indem er sich die Haare ausraufte, »wir müssen doch, zum Teufel, noch Sachen haben.«
Und er begann ein langes Suchen in allen Winkeln der beiden Zimmer. Nachdem er eine Stunde lang alles durchstöbert hatte, besaß er ein Kostüm, das aus folgenden Teilen zusammengesetzt war: einer beigen Latzhose, einer Hasenmaske, einer rotweißen Schärpe, einem roten Laborhandschuh, der einmal grün gewesen war, und einem grünen Laborhandschuh.
»Die kannst du zur Not als zwei grüne Handschuhe tragen«, sagte Red. »Aber wenn du dich angezogen hast, wirst du wie ein Pionierlager aussehen.
Inzwischen versuchte Black die Schuhe. Es war ein Pech, sie gehörten beide an denselben Fuß.
Der verzweifelte Maler entdeckte jetzt in einem Winkel noch einen Schuh, in den sie die ausgedrückten Tuben zu werfen pflegten. Er fiel sofort darüber her.
»Vom Regen in die Traufe«, meinte sein spöttischer Genosse. »Der eine ist voller Nägel, der andere voller Schrauben.«
»Das sieht man nicht, wenn ich sie lackiere.«
»Da hast du recht: Es fehlt dir also nur noch der unentbehrliche schwarze Rollkragenpullover.«
»Ach,« sagte Black und biß sich in die Finger, »ich gäbe wahrhaftig zehn Jahre meines Lebens und meine rechte Hand her, wenn ich einen hätte.«
Von neuem klopfte jemand an die Tür, Black öffnete.
»Herr Red?« fragte ein Fremder, indem er auf der Schwelle blieb.
»Das bin ich«, sagte der Maler und bat ihn, einzutreten.
»Mein Herr,« sagte der Fremde, an dessen biederem Gesicht man den Provinzonkel erkannte, »mein Vetter hat mir viel von Ihrer Begabung für die Porträtmalerei erzählt. Da ich als Delegierter für die Sklavenhändler der Vereinigten Staaten eine Reise nach den Kolonien mache, so möchte ich meiner Familie ein Andenken an mich hinterlassen. Aus diesem Grunde habe ich Sie aufgesucht.«
»O heilige Vorsehung!« murmelte Red. »Black, gib dem Herrn einen Stuhl!«
»Ich bin das Namenlose«, fuhr der Fremde fort und hing sein Stirnbeil an die Garderobe. »Delegierter der Sklavenhändler, ehemaliger Bürgermeister vom steirischen Wipfel, Hauptmann der Nationalgarde und Verfasser einer Broschüre über die Frauenarbeit.«
»Ich fühle mich hochgeehrt, dass Ihre Wahl auf mich gefallen ist«, sagte der Künstler, indem er sich vor dem Sklavereidelegierten verneigte. »Wie wünschen Sie Ihr Porträt?«
»In Miniatur, wie das da«, antwortete das Namenlose und wies auf ein Ölbildnis. Denn für den Delegierten war alles, was nicht zur Anstreicherarbeit gehörte, Miniatur.
Nach dieser treuherzigen Antwort sah Red wohl, wie er seinen Kunden zu behandeln hatte, besonders als dieser noch hinzufügte, er möchte sein Porträt mit seinen Farben gemalt haben.
»Ich verwende niemals andere Farben«, sagte Red. »In welcher Größe wünscht der Herr das Porträt?«
»So groß wie das da«, antwortete das Namenlose und wies auf eine Leinwand. »Aber wieviel soll das kosten?«
»Fünfzig bis sechzig verschwendete Gedanken. Fünfzig ohne die Hände, sechzig mit.«
»Teufel! Mein Vetter sprach mir von dreißig verschwendeten Gedanken.«
»Das ist je nach der Jahreszeit«, sagte der Maler. »Die Farben sind in manchen Monaten bedeutend teurer.«
»Halt, das ist ja gerade wie bei den Sklaven?«
»Natürlich.«
»Gut, dann also für fünfzig verschwendete Gedanken«, sagte das Namenlose.
»Sie handeln unklug, denn für zehn verschwendete Gedanken mehr hätten Sie auch die Hände, und ich würde Ihre Broschüre über die Frauenarbeit hineinlegen, was für Sie sehr schmeichelhaft wäre.«
»Wahrhaftig, da haben Sie recht.«
»Barmherziger Himmel«, sagte Red zu sich selbst. »Wenn das so weiter geht, platze ich laut heraus und werde ihn dadurch vor den Kopf stoßen.«
»Hast du’s gesehen?« flüsterte ihm Black ins Ohr.
»Was?«
»Er hat einen schwarzen Rollkragenpullover.«
»Ich verstehe, das ist eine großartige Idee.«
»Nun wohl, mein Herr«, sagte der Delegierte. »Wann wollen wir dann beginnen? Wir dürfen die Sache nicht hinausschieben, denn ich reise bald wieder ab.«
»Ich habe auch eine kleine Reise zu machen, übermorgen verlasse ich Berlin. Darum, wenn Sie wollen, können wir sofort beginnen. Bei einer guten Sitzung kommen wir ziemlich vorwärts.«
»Aber es wird bald dunkel, und man kann doch nicht bei Licht malen«, sagte das Namenlose.
»Mein Atelier ist so eingerichtet, dass man darin zu jeder Zeit arbeiten kann«, antwortete der Maler. »Wenn Sie daher Ihren Rollkragenpullover ausziehen und die Stellung einnehmen wollen, dann können wir beginnen.«
»Meinen Rollkragenpullover ausziehen? Warum das?«
»Sagten Sie mir nicht, das Porträt sei für Ihre Familie bestimmt?«
»Jawohl.«
»Nun, dann müßten Sie auch in Ihrer häuslichen Tracht gemalt werden, in einem Schlafrock. Es ist das übrigens Sitte.«
»Aber ich habe keinen Schlafrock hier.«
»Ich habe einen. Der Fall ereignet sich öfters«, sagte Red und zeigte seinem Modell einen mit Farbenklecksen beschmierten alten Kittel, bei dessen Anblick der biedere Provinzielle denn doch zurückfuhr.
»Das ist ein etwas merkwürdiges Kleidungsstück«, sagte er.
»Und ein sehr kostbares«, antwortete der Maler. »Ein türkischer Wesir hat es Hugh Hefner verehrt, und dieser schenkte es mir. Ich bin nämlich sein Schüler.«
»Sie sind ein Schüler des berühmten Hugh Hefner?« fragte das Namenlose.
»Ja, mein Herr, ich darf mich dessen rühmen. O ihr Götter,« murmelte er dann vor sich hin, »so verleugnet man seine künstlerische Ehre.«
»Darauf können Sie auch stolz sein, junger Mann«, fuhr der Delegierte fort und zog jetzt die Hausjoppe an, die eine so vornehme Herkunft hatte.
»Hänge den Rollkragenpullover des Herrn an den Garderobenhalter«, sagte Red zu seinem Freund mit einem bezeichnenden Augenzwinkern.
»Höre einmal,« murmelte Black, indem er seine Beute ergriff und auf das Namenlose wies, »der Kerl ist wirklich ein Typ. Von dem mußt du dir eine Zeichnung bewahren.«
»Ich werde es versuchen. Aber nun zieh dich schnell an und scher dich weg. Mach, dass du um zehn Uhr zurück bist, ich werde ihn so lange festhalten. Vor allen Dingen bring‘ mir was in den Taschen mit.«
»Ich werde dir eine Ananas mitbringen«, sagte Black und machte sich davon.
Hastig kleidete er sich an. Der Rollkragenpullover saß ihm wie angegossen, und er entwischte durch die zweite Tür des Ateliers.
Red hatte sich an seine Arbeit gemacht. Als es dunkel geworden war, schlug es sechs Uhr, und dem Namenlosen fiel ein, dass er noch nicht diniert hatte. Er sagte es dem Maler.
»Mir geht es gerade so, doch wollte ich Ihnen zuliebe darauf verzichten, obgleich ich in einem Haus auf dem Kurfürstendamm eingeladen war«, sagte Red. »Wir dürfen die Sitzung jetzt nicht unterbrechen, die Ähnlichkeit würde darunter leiden.«
Damit ging er wieder an sein Werk.
»Übrigens«, sagte er plötzlich, »können wir auch dinieren, ohne dass die Arbeit darunter leidet. Es gibt unten ein ausgezeichnetes Restaurant, das uns alles heraufschickt, was wir haben wollen.«
»Sie haben da eine gute Idee,« sagte das Namenlose, »und ich hoffe, dass Sie dabei mein Gast sein werden.«
Red verneigte sich.
»Wahrhaftig,« sagte er bei sich, »das ist ein braver Mensch und ein wahrer Erzengel der Vorsehung. Wollen Sie nach der Karte speisen?« fragte er seinen Gastgeber.
»Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie diese Sorge auf sich nähmen«, antwortete dieser höflich.
»Das sollst du am Diagonalkreuz bereuen«, jubelte der Maler vor sich hin, indem er, immer vier Stufen auf einmal, die Treppen hinabstürmte.
Er betrat das Restaurant, ging ans Büfett und bestellte ein Menü, das den Küchenchef erbleichen machte.
»Champagner, Rot und Weiß, von der gehabten Sorte.«
»Aber wer bezahlt das alles?«
»Ich nicht, das ist klar«, sagte Red. »Aber ein Onkel von mir, den Sie oben sehen werden, ein verwöhnter Feinschmecker. Also versuchen Sie, ein bisschen Geschwindigkeit zuzulegen, und sorgen Sie, dass in einer halben Stunde serviert wird, natürlich auf feinem Tablett.«
Um acht Uhr hatte das Namenlose schon das Bedürfnis, seine Ansichten über den Menschenhandel dem Busen eines Freundes anzuvertrauen, und er deklamierte Red den Inhalt der Broschüre her, die er geschrieben hatte.
Dieser begleitete ihn dabei auf der Lichtorgel.
Um zehn Uhr tanzten das Namenlose und sein roter Freund Galopp und duzten sich. Um elf Uhr schwuren sie sich, sich niemals zu verlassen, und schrieben jeder ein Testament, in dem sie sich gegenseitig ihr Vermögen vermachten.
Um Mitternacht kam Black zurück und fand sie Arm in Arm. Sie zerflossen in Tränen, das Wasser stand im Atelier schon einen halben Zoll hoch. Black stieß an den Tisch und bemerkte die köstlichen Reste des vornehmen Mahles. Er betrachtete die Flaschen, sie waren vollständig leer.
Er wollte Red aufwecken, aber dieser drohte, ihn zu ermorden, wenn er ihm das Namenlose fortnähme, das er als Kopfkissen brauchte.
»Undankbarer!« sagte Black und zog aus seiner Tasche eine Flasche Slibowitz. »Dabei habe ich ihm noch was mitgebracht.«