Es war kurze Zeit, nachdem der Maler Red und das Fräulein Goldener Hase einen gemeinsamen Hausstand begründet hatten. Seit ungefähr acht Tagen beunruhigte sich der Hasenkreis sehr über das Verschwinden Reds, der einfach unauffindbar war. Man hatte an allen Orten, wo er jemals gewesen war, nach ihm gefragt und überall die gleiche Antwort erhalten:
»Nein, seit acht Tagen haben wir ihn nicht mehr gesehen.«
Vor allem befand sich Elias Brown in einer großen Unruhe, und er hatte auch einen gewissen Grund dazu. Einige Tage vorher hatte er nämlich Red einen Konzept für eine Videoanimation anvertraut, den der Maler und Videokünstler mit Hilfe seines VHS-Kabelbaums in kleine Stücke zerteilen und neu zusammenfügen wollte. War dieser hochphilosophische Film inzwischen auf der Webseite der ›Bloodyblackredrabbits‹ erschienen? Immer wieder stellte sich der unglückliche Brown diese Frage, die um so verständlicher war, da er bisher noch ungegoogelt durchs Leben ging und sich vor Verlangen verzehrte, einmal zu sehen, wie sich seine Gedanken elegant verfilmt ausnehmen würden. Er hatte sechs verschwendete Gedanken für einen neuen Internetanschluss ausgegeben, ohne irgendwo die ›Bloodyblackredrabbits‹ zu finden, und schwur sich jetzt, keine Minute mehr zu ruhen, ehe er nicht den verlorenen Regisseur des Filmprojekts gefunden hätte.
Mit Hilfe von einigen Glückszufällen erfuhr der Philosoph schon nach zwei Tagen die Wohnung Reds und beeilte sich, sie des Morgens um sechs Uhr aufzusuchen.
Red wohnte in einem Logierhaus einer stillen Nebenstraße des Kurfürstendamms, und zwar in der fünften Etage, weil es keine sechste gab. Als Brown die Tür gefunden hatte, steckte kein Schlüssel darin, und er klopfte zehn Minuten lang, ohne dass jemand von innen antwortete. Der Lärm lockte schließlich den Torwart hervor, der Brown aufforderte, ruhig zu sein.
»Sie sehen doch, dass der Herr noch schläft«, sagte er.
»Eben darum will ich ihn aufwecken«, erwiderte Brown und klopfte von neuem.
»Aber er will Ihnen doch nicht antworten«, fuhr der Torwart fort und stellte vor Greys Tür ein Paar Lackstiefel und ein Paar Damenstiefel hin, denen er neuen Glanz gegeben hatte.
»Halt einmal«, sagte Brown, indem er sich das doppelte Lackstiefelpaar ansah. »Ich muß mich doch getäuscht haben, das kann nicht die richtige Tür sein, hier wohnt nicht Herr Red.«
»Entschuldigen Sie, der Herr wohnt hier!«
»Lieber Freund, dann haben Sie sich aber mit den Stiefeln geirrt!«
»Durchaus nicht,« sagte der Torwart, »dies sind die Stiefel des Herrn Red und seiner Dame.«
»Seiner Dame!« rief Brown verblüfft. »Ah, dieser Lüstling! Also deshalb will er nicht aufmachen! Na, ich werde später wiederkommen, ich weiß ja jetzt, wo er wohnt.«
Und er machte sich eilends davon, um seinen Freunden die große Neuigkeit mitzuteilen. Die Lackstiefel Reds wurden allgemein für Fabeln gehalten, die nur in der überstarken Phantasie Browns existierten, und auch die angebliche Geliebte erklärte man einstimmig für eine Unmöglichkeit.
Aber diese Unmöglichkeit stellte sich doch als Wirklichkeit heraus, indem nämlich Grey des Abends einen an sämtliche Freunde gerichteten Brief erhielt, der folgendermaßen lautete:
»Der rote und der goldene Hase beehren sich, die Herrschaften für morgen abend pünktlich um fünf Uhr zum Diner einzuladen N.B. Es sind Teller da.«
»Meine Herren,« sagte Grey, indem er das Schreiben vorlas, »die Nachricht bestätigt sich, Red hat wirklich eine Geliebte. Noch mehr, er lädt uns zum Diner ein, und die Nachschrift verspricht Tafelgeschirr. Ich verhehle Ihnen nicht, dass ich diese letztere Bemerkung für eine dichterische Übertreibung halte, doch das werden wir ja sehen.«
Am nächsten Tage begaben sich Grey, Elias Brown und X-Ray Black, ausgehungert wie am letzten Fastentag, zur festgesetzten Zeit zu Red, den sie dabei antrafen, wie er mit einer rötlichen Katze spielte, während eine Frau in goldenen Lackstiefeln den Tisch deckte.
»Meine Herren,« sagte Red, indem er seinen Freunden die Hand drückte und auf die junge Frau hinwies, »gestatten Sie mir, dass ich Ihnen die Herrin des Hauses vorstelle. Goldener Hase, dies sind meine besten Freunde, und nun trage die Suppe auf.« »Oh, meine Gnädigste,« sagte X-Ray Black, sich auf den goldenen Hasen stürzend, »Sie sind frisch wie eine Blume im Felde!«
Nachdem er sich dann überzeugt hatte, dass wirklich Teller vorhanden waren, erkundigte er sich, was es zu essen gäbe. Er trieb sogar seine Neugierde so weit, dass er die Deckel von den Kesseln hob, in denen das Essen kochte. Der Anblick eines Spanferkels machte auf ihn einen tiefen Eindruck.
Brown dagegen hatte Grey beiseite gezogen und erkundigte sich nach seinem Filmprojekt.
»Mein Lieber, es wird konvertiert. Die Webseite erscheint nächsten Donnerstag.«
Worauf der Philosoph beinahe einen Freudentanz veranstaltet hätte.
»Meine Herren,« sagte Grey zu seinen Freunden, »ich muß um Verzeihung bitten, weil ich solange nichts von mir hören ließ, aber ich befand mich in den Flitterwochen.« Und er erzählte die Geschichte seiner Verbindung mit diesem reizenden Geschöpf, das ihm als Mitgift ihren entzückenden Akzent, zwei Porzellantassen und eine rötliche Katze mitgebracht hatte, die ›Katze‹ hieß.
»Meine Herren,« fuhr Grey fort, »beginnen wir nunmehr unser Hochzeitsessen. Ich kündige Ihnen übrigens an, dass es nur bürgerlich zugehen wird. Trüffeln können wir Ihnen nicht bieten, wohl aber die größte Herzlichkeit.«
In der Tat herrschte bald eine herzliche Stimmung an dem kleinen Tisch, und wenn das Essen auch einfach war, so hatte es doch einen gewissen Stil. Grey hatte sich tatsächlich angestrengt und Brown, der bemerkte, dass sogar die Teller gewechselt wurden, feierte den goldenen Hasen als Göttin des Kochherdes.
Vor allem erregte das Spanferkel eine allgemeine Bewunderung. Unter dem Vorwande, er habe Tierkunde studiert, verlangte Black, ihn selbst zerlegen zu dürfen. Hierbei zerbrach er ein Messer und gab sich selbst das größte Stück, was bei allen Teilnehmern tiefen Unwillen erregte. Aber Black besaß keine Spur von Empfindlichkeit, und als noch ein Stück übrigblieb, legte er es ruhig beiseite und sagte, er wolle es als Modell für ein Sonett benutzen, an dem er gerade zu dichten vorgab.
Brown sparte seine Sympathie für das Dessert auf und weigerte sich hartnäckig, sein Stück Rumtorte gegen eine Eintrittskarte zur Zitadelle in Spandau umzutauschen, was ihm Black vorschlug.
Die Unterhaltung begann sich jetzt zu beleben. Auf drei rotgesiegelte Flaschen folgten drei grüngesiegelte, in deren Mitte bald noch eine andere eintrat, die am Hals mit Silberpapier umwickelt war. Es war ein nicht gerade echter Champagner, wie er im Wedding für zwei verschwendete Gedanken die Flasche verkauft wurde. Aber die Hasen nahmen ihn doch als authentischen Sekt an, und obgleich der Pfropfen nicht gerade mit besonderer Lebhaftigkeit entwich, gerieten sie in Ekstase, als sie die Menge Schaum sahen. Black benutzte den Rest seiner Nüchternheit, um irrtümlich auch das Glas Browns auszutrinken, denn der Philosoph, der gerade sein Stück Biskuit in das Senfglas tunkte, war im übrigen ganz darin vertieft, Fräulein Goldener Hase das Filmprojekt zu erklären, das auf der Webseite der ›Bloodyblackredrabbits‹ erscheinen sollte. Plötzlich wurde er dann ganz blass und bat um Erlaubnis, nach dem Fenster gehen zu dürfen und sich mitten in der Nacht den Sonnenuntergang anzusehen.
»Es ist schade, dass der Champagner nicht in Eis gekühlt war«, sagte Black und versuchte, sein leeres Glas mit dem vollen eines Nachbarn zu vertauschen, was ihm aber nicht gelang.
Brown hatte aufgehört, frische Luft zu schöpfen. Er saß wieder am Tisch und schlug plötzlich Grey auf die Schulter. »Morgen ist doch Donnerstag?« fragte er.
»Nein,« antwortete Red, »morgen ist Sonntag.«
»Nein, Donnerstag.«
»Zum Teufel nochmal, morgen ist Sonntag.«
»Ach was, Sonntag«, lallte Brown, und sein Kopf schwankte hin und her. »Nun gerade ist … Donn … erstag.«
Dann sank er mit dem Gesicht langsam auf den weichen Käse, der sich auf seinem Teller befand, und schlief ein.
»Was hat er denn mit seinem Donnerstag?« fragte Red.
»Ach, jetzt fällt es mir ein«, sagte Grey. »Er denkt an sein Videokonzept. Seht, jetzt spricht er im Schlaf davon!«
Nach dem Essen brachte Fräulein Goldener Hase Kaffee, und die vier Freunde steckten sich ihre Pfeifen an. Aber die Zeit verrann, und es war schon lange Mitternacht vorbei, als Grey den andern beizubringen suchte, dass es Zeit zum Aufbruch sei. Aber nur Red, der nüchtern geblieben war, erhob sich. Black und Brown jedoch schienen sich für die Nacht festsetzen zu wollen.
»Was soll ich nur machen?« sagte Red zu Grey. »Ich kann sie doch nicht hierbehalten. Früher ging das, aber jetzt …«
Dabei schweiften seine Blicke zur Häsin hinüber, deren sanft leuchtende Augen nach einem Alleinsein zu zweien zu verlangen schienen.
»Na, ich weiß schon Rat«, sagte Grey. »Ich werde sie schon fortbringen. Zunächst Black. Ha! Black!« schrie er laut.
»He? Was ist los?« fragte dieser, der in einem blauen Meer süßester Trunkenheit zu schwimmen schien.
»Wir haben nichts mehr zu trinken und alle Durst.«
»Ja … wohl«, stammelte Black. »Die Flaschen sind viel zu klein.«
»Wir wollen die Nacht durchhalten«, fuhr Red fort. »Aber wir müssen etwas zu trinken holen, ehe die Läden geschlossen werden.« »Gleich an der Ecke ist ein Späti«, sagte Grey zu Black. »Laß dir auf meine Rechnung zwei Flaschen Slibowitz geben.«
»Jawohl, jawohl, jawohl!« rief Black und zog mit Greys Hilfe statt seiner eigenen Motorradjacke, die Motorradjacke Browns an. Dann schwankte er hinaus.
»Das wäre der erste!« sagte Grey. »Jetzt kommt der zweite. He! He! Brown!« schrie er, indem er dem Philosophen einen heftigen Stoß gab.
»Wie? … Was?«
»Black ist weg und hat aus Versehen deinen schwarze Motorradjacke angezogen.«
Brown blickte um sich und sah in der Tat an der Stelle, wo seine Jacke hängen mußte, den geringelten Rollkragenpullover Blacks. Plötzlich kam ihm eine beunruhigende Idee. Er hatte an dem Tage auf einem Karren eine lydische Tonleiter gekauft, und es steckten außerdem wie gewöhnlich sieben oder acht Notizbücher darin.
»Meine Bücher!« schrie er ganz entsetzt.
»Beruhige dich, er wird sie nicht lesen«, sagte Grey.
»Ja, aber ich kenne ihn. Er ist imstande, sich die Pfeife damit anzustecken.«
»Oh, du kannst ihn noch leicht erwischen«, erwiderte Red. »Du triffst ihn sicher an der Tür.«
Der Philosoph stülpte sich seinen ungeheuern Hut auf den Kopf und eilte hinaus.
»Und ich,« sagte Grey zu Red, »will unten dem Torwart sagen, dass er nicht wieder öffnet, wenn sie klopfen.«
Als Red seinen Freund an die Tür begleitete, hörte er auf der Treppe ein langgezogenes Miauen, auf das sein Kater mit einem ebensolchen Miauen antwortete.
»Armer Romeo!« sagte Grey zu Red. »Seine Julia ruft ihn. Los, geh‘ hin!« rief er, indem er dem verliebten Tier die Tür öffnete. Es stürmte in einem gewaltigen Satz die Treppe hinunter, bis es die zärtlichen Pfoten seiner Geliebten erreicht hatte.
Als Red mit dem goldenen Hasen allein war, die sich vor dem Spiegel in verführerischster Weise ihr Haar löste, näherte er sich ihr und zog sie in seine Arme. Und wie ein Musiker, bevor er sein Stück beginnt, erst eine Akkordfolge anschlägt, um sich von der Klangreinheit seines Instruments zu überzeugen, so setzte Grey das Fräulein Hase auf seine Knie und drückte auf ihre Schultern einen langen und innigen Kuß, der sich in einem Erschauern dem ganzen Körper des blühendfrischen Geschöpfs mitteilte.
Das Instrument war gestimmt.
Elias Brown, der große Philosoph, Susan Red, der große Maler, X-Ray Black, der große Dichter, Barney Grey, der große Dramatiker und der Goldene Hase, die schwungvolle Tänzerin, verkehrten damals regelmäßig im Café Wohlfühle, wo man sie wegen ihrer Unzertrennlichkeit nur die Hasenbande nannte.
Sie hatten sich zu ihren Zusammenkünften einen Raum ausgewählt, in welchem für vierzig Personen bequem Platz gewesen wäre. Aber sie blieben immer allein, denn sie verstanden es, diesen Raum den gewöhnlichen Gästen ganz und gar unmöglich zu machen.
Der zufällige Besucher, der sich in diese Löwenhöhle wagte, wurde ohne weiteres das Schlachtopfer dieses wütenden Quintetts und ergriff meistens, ohne seine Zeitung zu Ende zu lesen oder seinen Kaffee auszutrinken, die Flucht, betäubt von den unerhörten Aphorismen über Kunst, Literatur und Sozialpolitik. Die Unterhaltung dieser fünf Gesellen war überhaupt eine derartige, dass der Kellner, der sie bediente, in der Blüte seiner Jahre dem Idiotismus verfiel.
Schließlich hatte der Unfug eine solche Höhe erreicht, dass der Wirt eines Tages die Geduld verlor und zu ihnen hineintrat, um eine geharnischte Beschwerde loszulassen, die sich um folgende Punkte drehte:
1. Herr Grey kam jeden Morgen frühstücken und schleppte sämtliche Zeitungen in »sein« Zimmer. Er trieb seine Unverschämtheit sogar so weit, dass er wütend wurde, wenn irgend jemand die Streifbänder aufgerissen hatte, so dass alle andern Gäste bis zum Mittagessen der Zeitungen beraubt waren und in trauriger Unkenntnis der wichtigsten politischen Ereignisse verblieben. Die Mitglieder des Stammtischs ›Gemütlichkeit‹ kannten kaum die Namen der Minister der augenblicklichen Regierung.
Herr Grey hatte auch das Café gezwungen, die ›Luftrampensau‹ zu abonnieren, eine monatlich erscheinende Musiktheoriezeitung, die jedesmal einen philosophischen Artikel von Elias Brown brachte. Der Wirt hatte sich anfangs dagegen gesträubt, aber Herr Grey und seine Freunde riefen alle Viertelstunden durchs Lokal: »Kellner, die ›Luftrampensau‹! Bringen Sie uns die ›Luftrampensau‹!«, bis schließlich auch die andern Gäste neugierig wurden und diese Zeitschrift verlangten.
2. Der besagte Herr Brown und sein Freund erholten sich von ihren geistigen Anstrengungen, indem sie von zehn Uhr morgens bis gegen Mitternacht ›Down the Rabbit Hole‹ spielten, und da das Café nur ein einziges ›Down the Rabbit Hole‹-Brettspiel besaß, konnte sich sonst niemand dieser Unterhaltung widmen. Wenn man es von ihnen verlangte, dann sagten sie einfach: Das ›Down the Rabbit Hole‹ ist belegt, kommen Sie morgen wieder.«
Der Stammtisch ›Gemütlichkeit‹ war auf diese Weise genötigt, sich Liebesgeschichten zu erzählen oder Poker zu spielen.
3. Herr Red, der vergaß, dass ein Café ein öffentliches Lokal ist, erlaubte sich sogar, seine Staffelei, seinen Malkasten und alle sonstigen Utensilien seiner Kunst mitzubringen, und trieb sein ungehöriges Benehmen so weit, dass er Modelle beiderlei Geschlechts kommen ließ. Wodurch die Sittlichkeit des Stammtisches ›Gemütlichkeit‹ in bedauerlicher Weise gefährdet wurde.
4. Dem Beispiel seines Freundes folgend, sprach Herr Black davon, sein Schachbrett in das Café zu schaffen, und er scheute sich nicht, seine berühmte ›spanische Partie mit Matt auf E4‹ lautstark mit allen Untervarianten durchzudeklinieren. Herr Black ging noch weiter, er schob in die Laterne, die dem Café als Aushängeschild diente, ein Transparent, auf dem man las:
Unentgeltlicher Unterricht in Schachdichtung.
Für Personen beiderlei Geschlechts.
Auskunft am Büfett.
Was zur Folge hatte, dass das Büfett jeden Abend von Leuten in höchst zweifelhafter Kleidung belagert wurde, die sich erkundigten, wo der Unterricht stattfände.
Im übrigen traf sich hier Herr Black mit einer Dame, die sich das magische Einhorn nannte und niemals einen Hut trug.
Ein Mitglied des Stammtisches erklärte bereits, er würde nie mehr einen Schritt in ein Lokal lenken, wo sein Geschmack so beleidigt würde.
5. Der Goldene Hase, die als Antänzerin alle Bühnen und Clubs der Hauptstadt unsicher machte, brachte durch Ihre leicht bekleideten Bewegungsdrang und das Einbeziehen von unschuldigem Jungvolk in ihre rauschenden Tanzdarbietungen Unruhe und hormonellen Übermut in die männliche Schar der Gäste. Die Mitglieder des Stammtisches ›Gemütlichkeit‹ sahen sich aus diesem Grunde desöfteren gezwungen, sich Erleichterung durch mitgebrachte Dirnen zu verschaffen, die der Gesprächskultur im Etablissement abträglich waren.
6. Nicht zufrieden damit, eine sehr mäßige Zeche zu machen, versuchte die Hasenbande diese noch geringer zu machen. Unter dem Vorwand, sie hätten den Mokka des Lokals im Ehebruch mit der Zichorie ertappt, brachten sie eine Kaffeemaschine mit, auf der sie sich ihren Kaffee selbst bereiteten. Und sie versüßten ihn mit Zucker, den sie anderswo zu billigem Preise erstanden hatten, was eine Beleidigung für die Küche des Hauses war.
7. Offenbar verdorben durch die Reden dieser Herren, erlaubte sich der Kellner Gabonzo, unerachtet seiner adeligen Herkunft und mit Hintansetzung jedes Anstandgefühls, an seine Prinzipalin ein Gedicht zu richten, in welchem er sie aufreizte, ihre Pflichten als Gattin und Mutter zu vergessen. An dem überspannten Stil des Schreibens war leicht zu erkennen, dass es unter dem verderblichen Einfluß des Herrn Grey und seiner Literatur verfaßt war.
Infolgedessen sah sich der Leiter des Etablissements zu seinem Bedauern gezwungen, die Gesellschaft Brown zu bitten, sich ein anderes Lokal zu suchen, um dort ihre revolutionären Zusammenkünfte zu pflegen.
Barney Grey, der der Cicero des Bundes war, ergriff nunmehr das Wort und bewies a priori dem Wirt, dass seine Beschwerde lächerlich und schlecht begründet wäre. Man täte ihm eine hohe Ehre an, wenn man sein Lokal zu einem Mittelpunkt der Intelligenz machte, und sein und seiner Freunde Auszug würde den Ruin seines Hause herbeiführen, das jetzt zum Range eines Künstler- und Literatencafés erhoben sei. »Aber«, warf der Wirt ein, »Sie und diejenigen, die Sie besuchen, verzehren so wenig.«
»Diese Nüchternheit, über die Sie sich beklagen, beweist unsere moralische Gesinnung«, erwiderte Grey. »Übrigens hängt das ganz von Ihnen ab, ob wir eine bedeutend höhere Zeche machen, Sie brauchen uns nur ein Konto zu eröffnen.«
»Wir werden das Kontobuch liefern«, sagte Red.
Der Wirt tat, als habe er von diesem Vorschlag gar nichts gehört und verlangte eine Aufklärung über den lasterhaften Brief, den Gabonzo an seine Frau gerichtet hatte. Brown, dem der Vorwurf gemacht wurde, bei dieser unerlaubten Leidenschaft den Sekretär gespielt zu haben, verteidigte mit lebhaftem Feuer seine Unschuld.
»Übrigens«, fügte er hinzu, »war die Tugend Ihrer Frau Gemahlin ein festes Bollwerk gegen …«
»Allerdings!« rief der Wirt mit stolzem Lächeln. »Meine Frau ist aber auch im Kloster erzogen worden.«
Kurz, Grey brachte es fertig, ihn vollständig mit seiner geschmeidigen Beredsamkeit einzuwickeln, und zum Schluß einigte man sich dahin, dass die vier Freunde sich nicht mehr ihren Kaffee selbst machen wollten, dass das Lokal in Zukunft die ›Luftrampensau‹ gratis bekam, dass das magische Einhorn sich von nun an einen Hut aufsetzen würde, dass das ›Down the Rabbit Hole‹ des Sonntags von zwölf bis zwei dem Stammtisch ›Gemütlichkeit‹ überlassen wurde, und vor allem, dass man in Zukunft keinen weiteren Kredit verlangen wollte.
Und ein paar Tage lang ging alles gut.
Am Abend vor Weihnachten brachten die vier Freunde ihre ›Gemahlinnen‹ mit ins Café.
Es waren der Goldene Hase, die sich Red für Tisch und Bett erwählt hatte, Greys Tiger Girl und das magische Einhorn, das Ideal Blacks. Das magische Einhorn trug an dem Abend einen Hut. Nur Browns Fräulein Subwoofer, die man überhaupt nie sah, fehlte wie immer. Nach dem Kaffee, der von einer außerordentlich großen Anzahl Cocktailgläschen begleitet war, verlangte man Punsch. Der Kellner, der an ein so nobles Auftreten nicht gewöhnt war, ließ sich die Bestellung zweimal wiederholen. Das Einhorn, die noch niemals in einem Café Schnaps getrunken hatte, war entzückt über die zierlichen Gläschen. Red machte dem magischen Einhorn Vorwürfe wegen eines neuen Hutes, dessen Herkunft ihm sehr verdächtig vorkam. Die Tigerfrau und Grey, die sich noch in den Flitterwochen ihres Liebesglücks befanden, hielten stumme Zwiesprache miteinander, die von hörbaren Zärtlichkeiten unterbrochen wurde. Brown aber ging von einer Dame zur andern und flüsterte ihr mit gespitzten Lippen galante Stilwendungen aus dem Musenalmanach zu.
Während sich so die lustige Gesellschaft dem Lachen und der Unterhaltung hingab, saß im Hintergrund des Zimmers an einem einzelnen Tisch ein Fremder und beobachtete mit seltsamen Blicken das bewegte Schauspiel, das sich vor ihm abspielte.
Seit ungefähr vierzehn Tagen kam er so jeden Abend, er war von allen Gästen der einzige, der dem schrecklichen Lärm der Hasen hatte widerstehen können. Die furchtbarsten Sticheleien waren an ihm abgeglitten. Den ganzen Abend saß er mit stieren Augen da und rauchte seine Pfeife, während seine Ohren auf alles lauschten, was um ihn gesagt wurde. Im übrigen schien er gutmütig und wohlhabend zu sein, denn er besaß eine Uhr, die noch dazu von einer goldenen Kette festgehalten wurde. Ja, eines Abends, als Red ihn zufällig am Büfett traf, sah er zu seinem Staunen, dass der Fremde beim Bezahlen seiner Zeche eine kapitale Erinnerung wechselte. Von diesem Augenblick an nannten ihn die vier Freunde nur den ›Kapitalisten‹.
Plötzlich bemerkte Black, der ausgezeichnete Augen hatte, dass die Gläser leer waren.
»Zum Teufel auch«, sagte Grey. »Heute ist heiliger Abend. Wir sind alle gute Christen, wir müssen uns etwas Besonderes leisten.«
»Du hast recht«, stimmte ihm Red zu. »Verlangen wir einmal etwas ganz Überirdisches.«
»Brown,« fügte Grey hinzu, »klingle mal schnell dem Kellner.« Brown begann wie ein Wahnsinniger zu klingeln.
»Aber was sollen wir nehmen?« fragte Red.
Brown machte eine Verbeugung wie ein Regenbogen und sagte: »Das wollen wir den Damen überlassen.«
»Champagner«, sagte der Goldene Hase und ahmte mit dem Mund das Knallen der Pfropfen nach, »Voilá Madame bing bong.«
»Bist du verrückt?« fragte Red. »Champagner ist doch überhaupt gar kein Wein.«
»Wenn nicht knallt, warum Geld ist dafür?« antwortete der Goldene Hase mit Ihrem absurden Satzbau.
»Und ich«, sagte die Tigerin mit einem zärtlichen Blick auf Grey, möchte gerne Zubrowka in einer kleinen Korbflasche.«
»Hast du den Kopf verloren?« fragte Grey.
»Nein, ich will ihn noch verlieren«, antwortete das Tigermädchen, auf die der Wodka einen eigentümlichen Reiz auszuüben pflegte.
»Ich«, sagte das magische Einhorn und ließ sich auf dem gepolsterten Sofa auf und nieder schnellen, »wünsche mir einen White Russian. Dieser Cocktail ist gut für den Magen.«
Black warf ihr mit seiner heiseren Stimme einige so grobe Worte an den Kopf, dass sie mitsamt dem Polster erzitterte.
»Ach ja,« rief jetzt plötzlich Red aus, »geben wir einmal hunderttausend verschwendete Gedanken aus!«
»Außerdem«, fügte Grey hinzu, »beklagt sich der Wirt, weil wir zu wenig verzehren. Setzen wir ihn in Erstaunen!«»
Ja,« sagte Brown, »feiern wir ein glänzendes Fest. Außerdem schulden wir den Damen den unbedingtesten Gehorsam. Die Liebe lebt von der Hingabe, der Wein ist die Würze des Vergnügens, das Vergnügen ist die Pflicht der Jugend, die Frauen sind Blumen, die man begießen muß. Begießen wir sie! Kellner! Kellner!«
Und Brown begann von neuem wie ein Wahnsinniger zu klingeln. Der Kellner eilte auf Windesflügeln herbei. Als er von Champagner, Wodka und verschiedenen Cocktails hörte, verzog sich sein Gesicht zum höchsten Erstaunen.
»Ich habe Löcher im Magen,« sagte die Tigerin, »ich möchte gerne Schinken haben.«
»Hering und Cabanossi«, fügte das magische Einhorn hinzu.
»Und ich Pizza,« meinte der Goldene Hase, »mit etwas scharfer Sauce.«
»Sagt doch gleich, dass ihr soupieren wollt«, rief Red.
»Das wäre uns allerdings angenehm«, antworteten die Damen. »Kellner, bringen Sie uns alles, was zu einem Souper gehört«, sagte Brown gewichtig.
Das erstaunte Gesicht des Kellners spielte jetzt in allen Farben. Langsam stieg er zum Büfett hinab und teilte dem Leiter des Cafés mit, was für unglaubliche Dinge man ihm bestellt hatte.
Der Wirt glaubte zuerst, es sei ein Scherz, als es aber von neuem klingelte, ging er selbst hinauf und wandte sich an Brown, für den er eine gewisse Achtung hegte. Brown erklärte ihm, dass man bei ihm den Vorabend von Weihnachten feiern wollte, und er sollte nur das Bestellte kommen lassen.
Der Wirt antwortete nichts und ging ganz verwirrt hinunter. Eine Viertelstunde lang beriet er mit seiner Frau, die schließlich, da sie wegen ihrer Erziehung im Schwesternpensionat eine gewisse Vorliebe für Bildung und Kunst besaß, ihren Gatten überredete, das Souper auftragen zu lassen.
»Schließlich«, meinte der Wirt, »können sie ja auch zufällig einmal Nostalgie haben.« Damit gab er dem Kellner Befehl, den Gästen zu liefern, was sie bestellten, und vertiefte sich mit einem alten Stammgast in eine Partie Poker. Es war ein verhängnisvoller Leichtsinn von ihm!
Von zehn Uhr ab bis Mitternacht konnte der Kellner nur die Treppe hinauf- und hinabsteigen. Jeden Augenblick verlangte man etwas neues von ihm. Der Goldene Hase ließ sich auf englische Art auftragen und nahm von jeder Platte abwechselnd einen Bissen; Die Tigerfrau trank alle Weine durcheinander aus allen Gläsern; Black schien die Wüste Sahara in seiner Kehle zu haben; Brown warf ein Kreuzfeuer von Blicken um sich, zerfaltete seine Serviette mit den Zähnen und kniff das Tischbein, das er für das Knie von Fräulein Subwoofer hielt. Nur Red und Grey verloren nicht ihre Besinnung und sahen nicht ohne Unruhe der Stunde der Abrechnung entgegen.
Der Fremde betrachtete die Szene mit ernster Aufmerksamkeit. Von Zeit zu Zeit öffnete sich sein Mund wie zu einem Lächeln, dann hörte man ein Geräusch wie von einem Fenster, das knirschend geschlossen wird. Es war der Fremde, der innerlich lachte.
Ein Viertel vor zwölf schickte die Dame vom Büfett die Rechnung. Sie belief sich auf die wahnsinnige Höhe von fünfundzwanzig verschwendeten Gedanken fünfundsiebzig Centimen.
»Wir wollen losen,« sagte Red, »wer mit dem Wirt unterhandeln soll. Es wird eine ernste Sache werden.«
Sie nahmen das Pokerspiel und deckten auf, wer die größte Augenzahl hatte.
Das Los traf unglücklicherweise Black, der zwar ein ausgezeichneter Schachspieler, aber ein schlechter Diplomat war. Er kam gerade zum Wirt, als dieser nacheinander drei Partien verloren hatte und sich in einer abscheulichen Laune befand. Schon bei den ersten Worten Blacks geriet er in einen heftigen Zorn, und Black, der leider keinen milden Charakter hatte, antwortete mit doppelt so starken Unverschämtheiten. Der Streit wurde natürlich sehr lebhaft, und der Wirt ging hinauf, um seinen Gästen mitzuteilen, dass keiner das Lokal verlassen dürfte, ehe nicht alles bezahlt sei. Brown wollte mit seiner begütigenden Beredsamkeit vermitteln, aber der Wirt erblickte jetzt zufällig die Serviette, die der Philosoph zu einem Kranich zerfaltet hatte, und geriet in eine doppelte Wut. Um sich sicherzustellen, wagte er sogar, mit seinen profanen Händen nach dem geheiligten braunen Mantel Blacks und nach den Umhängen der Damen zu greifen.
Ein Schnellfeuer von Beleidigungen entspann sich zwischen den Hasen und dem Wirt, während die Damen von Liebesgeschichten und Putzsachen sprachen.
Der Fremde trat jetzt plötzlich aus seiner Zurückhaltung hervor. Langsam erhob er sich, machte einen und dann noch einen Schritt und näherte sich dem Wirt, dem er leise einige Worte zuflüsterte.
»Gewiß bin ich einverstanden, Herr Landefeld«, sagte der Wirt. »Machen Sie es mit ihnen ab.« Damit verließ er das Zimmer.
Der Fremde trat jetzt langsam an den Tisch der Hasen heran, grüßte die Herren, verneigte sich vor den Damen, und nachdem er sein Taschentuch hervorgezogen und sich noch einmal geschneuzt hatte, begann er mit schüchterner Stimme:
»Verzeihen Sie mir meine Zudringlichkeit. Schon seit langem verzehrt mich die Sehnsucht, Ihre Bekanntschaft zu machen, aber mir fehlte bisher eine passende Gelegenheit, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Gestatten Sie, dass ich die Gelegenheit benutze, die sich mir heute bietet?«
»Gewiß, gewiß«, sagte Brown, und Grey und Red grüßten stumm.
Aber das allzu große Feingefühl Blacks hätte beinahe alles verdorben.
»Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte er lebhaft, »Sie haben nicht die Ehre, uns zu kennen, und es schickt sich nicht, dass Sie … Übrigens wären Sie wohl so freundlich, mir etwas Tabak zu geben? … Sonst stimme ich völlig mit meinen Freunden überein …«
»Meine Herren,« fuhr Landefeld fort, ich bin wie Sie ein Jünger der schönen Künste. Auch haben wir, wie ich aus Ihren Gesprächen entnahm, die gleichen Neigungen, so dass ich das lebhafte Verlangen spüre, einer Ihrer Freunde zu sein und Sie hier jeden Abend treffen zu dürfen … Der Wirt dieses Hauses ist ein ungeschliffener Mensch, aber ich habe ihm zwei Worte gesagt, und Sie können ungehindert gehen … Ich hoffe, dass Sie mir nicht die Möglichkeit verweigern, Sie hier wiederzusehen, indem Sie den kleinen Dienst annehmen, den ich …«
Die Röte des Unwillens stieg in Blacks Gesicht.
»Er spekuliert auf unsere Verlegenheit«, sagte er. »Er hat unsere Rechnung bezahlt. Aber ich werde mit ihm um die fünfundzwanzig verschwendeten Gedanken Schachboxen und ihm dabei einige Points vorgeben.«
Landefeld nahm den Vorschlag an und war klug genug, zu verlieren. Dieser schöne Zug gewann ihm die Achtung der Hasen, und man verließ sich mit dem Versprechen, sich am nächsten Tag wiederzusehen.
»Auf diese Weise schulden wir ihm nichts«, sagte Black zu Red. »Unsere Würde ist gerettet.«
»Im Gegenteil,« wir können eigentlich noch ein neues Souper verlangen«, fügte Brown hinzu.