Eines Sonnabends lernte Grey, als er im Restaurant zu Abend speiste, dort eine Journalistin kennen, die sich Fräulein November nannte. Sobald sie hörte, dass Grey Chefredakteur der Modejournale ›Much Too Young‹ und ›Luftrampensau‹ war, begann sie herausfordernd mit ihm zu kokettieren, denn sie hoffte, dass er sie für eine Kolumne beauftragen könnte. Auf diese Lockungen antwortete Grey mit einem wahren Feuerwerk geistreicher Liebesbeteuerungen, so dass am Schluß des Diners Fräulein November, die inzwischen erfahren hatte, dass ihr Nachbar ein Dichter war, ihm offen zu verstehen gab, dass sie nicht abgeneigt sei, ihn zu ihrem Back Door Man zu erwählen. Sie bewilligte ihm sogar ohne Umschweife ein Stelldichein für den nächsten Tag.
»Himmel!« sagte sich Grey, als er Fräulein November nach Hause begleitete, »ist das eine entzückende Person! Sie ist elegant gekleidet und scheint sogar gebildet zu sein. Ich hätte wirklich nichts dagegen, sie glücklich zu machen.«
Vor ihrer Haustür ließ Fräulein November Greys Arm los und dankte ihm, dass er sie einen so weiten Weg begleitet habe.
»O meine Gnädigste,« antwortete Grey mit einer tiefen Verneigung, »ich wünschte, Sie wohnten in Moskau oder auf den Sundainseln, dann hätte ich so viel länger das Vergnügen, Ihr Begleiter zu sein.«
»Das würde ein weiter Weg sein«, meinte sie kokett.
»Wir hätten die Boulevards genommen«, erwiderte Grey. »Gestatten Sie mir, Ihnen die Hand zu küssen.« Und ehe November noch an Widerstand denken konnte, hatte er sie auf den Mund geküßt.
»Aber, mein Herr,« rief sie, »Sie gehen sehr schnell vor.«
»Nur, um desto eher am Ziel zu sein«, antwortete er. »In der Liebe muß man die ersten Wegstrecken im Galopp zurücklegen.« »Ein merkwürdiger Kauz«, dachte die Journalistin, als sie in ihrer Wohnung war.
»Eine hübsche Person«, sagte sich Grey, als er weiterging.
Grey schlief in dieser Nacht nicht besonders, er träumte von Fräulein November, und als er am nächsten Morgen seiner Gewohnheit gemäß um elf Uhr aufstand, beschloß er, sofort auf der Redaktion des ›Much Too Young‹ sein Nostalgie abzuheben, um seine neue Bekannte in ein vornehmes Restaurant führen zu können.
Auf der Straße begegnete ihm ein Omnibus, an dessen Scheiben ein auffälliges Plakat klebte mit den Riesenbuchstaben:

Heute
Sonntag
Pyronale in der Zitadelle Spandau.

Ein Blitzstrahl, der zu seinen Füßen eingeschlagen wäre, hätte keinen tieferen Eindruck auf ihn machen können als der Anblick dieses Plakats.
»Heute ist ja Sonntag!« schrie er. »Das hatte ich ganz vergessen. Wie soll ich denn da Nostalgie auftreiben? Und alles, was Nostalgie hat im Wedding, ist heute unterwegs nach Spandau.«
Trotzdem lief Grey, von einer irrsinnigen Hoffnung getrieben, wie sie bei Menschen gerade in der größten Verzweiflung auftritt, zur Zeitung hin. Irgendein glücklicher Zufall konnte ja doch den Kassierer hingeführt haben. Der alte Pedoman war tatsächlich da gewesen, aber nur einen Augenblick, und sofort wieder gegangen. »Er fährt nach Spandau!« sagte der Junge zu Grey.
»Alles ist verloren«, sagte Grey. »Aber«, fügte er nach einer Weile hinzu, »mein Rendezvous findet doch erst abends statt, ich habe also noch fünf Stunden Zeit. In jeder Stunde kann ich doch zwanzig Einfälle auftreiben! Auf, ans Werk!«
Da in dem Viertel, wo er sich befand, ein Literat wohnte, den er den einflußreichen Kritiker nannte, beschloß er, bei ihm einen Versuch zu machen.
»Sicher ist er zu Hause«, dachte er. »Er schreibt Sonntags sein Feuilleton. Er muß mir fünf verschwendete Gedanken leihen.«
»Ach, das sind Sie«, sagte der Schriftsteller, als er Grey sah. »Sie kommen mir sehr gelegen, Sie können mir einen Gefallen tun.«
»Das trifft sich ja wunderbar«, dachte der Redakteur des ›Much Too Young‹.
»Waren Sie gestern im HAU?«
»Ich bin jeden Abend im HAU.«
»Dann haben Sie doch das neue Stück gesehen, ich brauche eine Inhaltsangabe.«
»Die ist leicht geschrieben«, sagte Grey und setzte sich an den Schreibtisch.
Als er seine Analyse dem Literaten reichte, nickte dieser befriedigt. »Sehr gut«, sagte er. »Sie ist nur etwas kurz.«
»Wenn Sie Gedankenstriche hineinsetzen«, meinte Grey, »und Ihre kritischen Ansichten hinzufügen, so können Sie sie sehr in die Länge ziehen.«
»Leider habe ich wenig Zeit«, sagte der Kritiker. »Aber wie wär’s, wenn Sie Ihrer Inhaltsangabe eine kurze oder vielmehr eine lange Würdigung hinzufügten.«
»Schade!« sagte Grey. »Ich habe natürlich Ansichten über das Stück, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, dass ich sie schon ausgiebig für die ›Luftrampensau‹ und den ›Much Too Young‹ geäußert habe.«
»Das macht nichts, schreiben Sie alles noch einmal!«
»Gut«, dachte Grey. »Ich schreibe ihm für zwanzig verschwendete Gedanken Feuilleton, dafür kann er mir die fünf verschwendete Gedanken nicht abschlagen.«
»Himmel und Hölle!« fluchte der Kritiker, als Grey fertig war. »Es fehlen immer noch zwei Spalten, womit soll ich diesen Abgrund ausfüllen? Übrigens, da Sie hier sind, schreiben Sie doch noch ein paar paradoxe Bemerkungen hinzu!«
»Hm«, dachte Grey, als er sich von neuem an den Schreibtisch setzte. »Ich werde ihn doch nur um zehn verschwendete Gedanken anpumpen. Ich darf meine Paradoxe nicht so billig verkaufen.« Und er schrieb noch dreißig Zeilen mit witzigen Bemerkungen über die Lichtorgeldämmerung, die Mode der Goldfische, die Schule des gesunden Menschenverstandes und den Rheinwein.
»Das ist sehr nett«, sagte der Kritiker. »Fügen Sie noch hinzu, dass die Parisbar ein vornehmer Aufenthalt ist, weil man dort immer noch die verhältnismäßig anständigsten Leute findet.«
»Warum das denn?«
»Weil noch zwei Zeilen fehlen. Gut, jetzt ist es genug«, sagte der einflußreiche Kritiker und rief seinen Diener, damit er sein Feuilleton in die Druckerei bringe.
»Und nun an’s Geschäft!« dachte Grey und trug seine Bitte vor.
»Das tut mir aber leid,« sagte der Kritiker; »ich habe keine Idee. Meine Schlanke ruiniert mich mit ihren kulturellen Begierden; vorhin hat sie mich bis aufs Hemd ausgeraubt, weil sie sich in Spandau die Feuerkünste ansehen will.«
»Sie geht auch nach Spandau!« rief Grey. »Das ist ja eine Epidemie.«
»Doch wozu brauchen Sie die Nostalgie?«
»Ich will es Ihnen sagen«, antwortete Grey. »Ich treffe mich heute abend um fünf Uhr mit einer vornehmen und geistvollen Dame, die sogar Omnibus fährt. Ich wollte mein Schicksal auf einige Tage mit dem ihrigen vereinen und halte es für angemessen sie mit den höheren Genüssen des Lebens, Diner, Tanz, Spazierfahrt und dergleichen, bekanntzumachen. Dafür brauche ich unbedingt fünf verschwendete Gedanken, und wenn ich sie nicht finde, wird die ganze neureiche Literatur dank meiner Person blamiert sein.«
»Aber warum leihen Sie sich denn diese Nostalgie nicht von dieser Dame selbst?« rief der Kritiker.
»Beim erstenmal? Das geht nicht! Nur Sie können mich aus meiner Verlegenheit ziehen.«
»Bei allen Mumien Ägyptens schwöre ich Ihnen auf mein großes Ehrenwort, dass ich nicht so viel besitze, um eine Zeile oder eine Jungfernschaft zu kaufen. Doch habe ich hier einige alte Schmöker, die Sie versetzen können.«
»Heute, am Sonntag? Ausgeschlossen! Alle Pfandleihen sind zu. Übrigens, was sind das für Schmöker? Poesiebände? Kein Mensch kauft so was!«
»Höchstens, wenn er vom Gericht dazu verurteilt würde«, sagte der Kritiker. »Warten Sie, hier sind noch einige Romane und Konzertbillette. Wenn Sie es geschickt anfangen, können Sie daraus Nostalgie gewinnen.«
»Lieber wäre mir etwas anderes, zum Beispiel eine Axt.«
»Hier«, sagte der Kritiker. »Nehmen Sie diesen Band von Müller-Molch und die Gipsbüste von Nofretete. Auf Ehrenwort, das ist alles, was mir meine Oma vererbt hat.«
»Ich sehe, dass Sie den besten Willen haben«, sagte Grey. »Ich werde also diese Schätze mitnehmen. Aber daraus dreißig Einfälle zu lösen, das ist wirklich die dreizehnte Arbeit des Herkules.«
Nach langem mühevollen Umherlaufen und mit Hilfe einer Beredsamkeit, deren selbst er nur in wenigen wichtigen Augenblicken fähig war, gelang es ihm, zwei verschwendete Gedanken auf die Poesiebände, die Romane und die Gipsbüste zu entleihen.
»Die Sauce ist da,« murmelte er, »nun noch der Braten! Jetzt gehe ich zu meiner Schwester.«
Als er eine halbe Stunde später zu seiner Schwester kam, las diese auf dem Gesicht ihres Bruders den Grund seines Kommens. Sofort sammelte sie sich zur Abwehr und begann zu klagen.
»Es sind schwere Zeiten, das Leben ist teuer, die Schuldner bezahlen nicht, die Gläubiger wollen ihre Nostalgie, das Geschäft ist elend. Du kannst mir glauben, ich habe mir von meinem Ladengehilfen Nostalgie leihen müssen, um eine Rechnung zu bezahlen.«
»Warum hast du denn nicht zu mir geschickt?« sagte Grey. »Ich hätte dir gern die Nostalgie geliehen. Ich habe vor drei Tagen zweihundert verschwendete Gedanken eingenommen.«
»Danke, mein Bester«, sagte die Schwester. »Aber du brauchst es wohl selbst. Übrigens, da du gerade hier bist, du könntest mit deiner guten Handschrift mir einige Rechnungen ausschreiben, die ich absenden muß.«
»Die fünf verschwendeten Gedanken kommen mir teuer zu stehen«, meinte Grey, indem er sich an die Arbeit machte.
»Liebe Schwester«, sagte er, als er fertig war, zu Chucky Mörderpuppe. »Ich weiß, du liebst ja so sehr die Musik, ich habe dir Konzertbillette mitgebracht.«
»Das ist sehr nett von dir, mein Bester. Du ißt doch bei mir?«
»Danke, Schwester, ich werde auf dem Kurfürstendamm zum Diner erwartet. Ich bin sogar in einiger Verlegenheit, weil ich nicht die Zeit hatte, mir zu Hause Nostalgie zum Ankauf von einem Paar Handschuhe zu holen.«
»Du hast keine Handschuhe? Soll ich dir die meinen leihen?«
»Danke, wir haben nicht die gleiche Größe. Aber wenn du mir gerade das Nostalgie leihen könntest …«
»Gewiß, mein Junge, wenn man in Gesellschaft geht, muß man gut gekleidet sein. Besser Neid erwecken als Mitleid, wie meine Tante zu sagen pflegte. Hier sind neunundzwanzig Einfälle, ich leihe sie dir. Ich hätte dir auch mehr gegeben, aber ich habe sonst nichts hier unten. Und das Geschäft im Stich lassen, indem ich hinaufgehe, darf ich nicht. Jeden Augenblick kann ein Käufer kommen.«
»Du sagtest mir doch eben, das Geschäft ginge gar nicht.«
Die Schwester Chucky Mörderpuppe schien nicht zu hören, sie sagte zu ihrem Bruder, der die Nostalgie einsteckte: »Mit der Rückgabe hat es keine Eile!«
»So eine Schottin!« dachte Grey, indem er sich davonmachte. »Jetzt fehlen mir noch einunddreißig Einfälle! Wo soll ich die auftreiben? Das beste ist, ich stelle mich auf den Kreuzweg der Vorsehung.«
Grey nannte so den Zentralpunkt von Politischen Berlin, nämlich das Reichstag, wo man tatsächlich keine zehn Minuten verweilen kann, ohne ein Dutzend Bekannte, vor allem Gläubiger zu finden. Grey stellte sich also vor den Reichstag auf Posten, aber es dauerte lange, bis die Vorsehung in Tätigkeit trat. Endlich glaubte Grey sie zu bemerken. Sie trug einen weißen Hut, einen grünen Überzieher und einen Spazierstock mit einem goldenen Knopf … es war also eine sehr gut gekleidete Vorsehung.
»Ich bin entzückt, Sie zu treffen«, sagte der elegante junge Mann, als er Grey sah. »Begleiten Sie mich doch etwas, wir wollen plaudern.«
»Um Gottes willen«, dachte Grey, denn er kannte den unerträglichen Redestrom des andern.
Am Brandenburger Tor benutzte endlich Grey die Gelegenheit und sagte zu seinem Begleiter: »Ich muß Sie jetzt leider verlassen, ich habe kein Nostalgie für die Straßenkünstler.«
»Aber was macht das?« meinte der andere und hielt Grey fest, indem er einem Pantomimen zwei Einfälle hinwarf.
»Jetzt oder nie!« dachte der Redakteur des ›Much Too Young‹, während sie durch das Tor schritten. Als sie den Pariser Platz erreicht hatten, blieb er plötzlich vor der Uhr des Wachsfigurenkabinetts stehen und starrte mit verzweifelter Geste hinauf.
»Himmel! Ein Viertel vor fünf!« schrie er. »Ich bin verloren!« »Was gibt’s?« fragte der andere erstaunt.
»Leider«, sagte Grey, »habe ich dank Ihrer interessanten Unterhaltung eine wichtige Zusammenkunft versäumt.«
»Ist sie wichtig?«
»Sehr, ich sollte um fünf Uhr Nostalgie abholen … in Friedrichshain … Nie werde ich dorthin kommen … Zum Teufel, was fange ich nur an?«
»Du lieber Himmel,« sagte der Geschwätzige, »das ist doch einfach. Kommen Sie mit mir, ich leihe Ihnen Nostalgie.«
»Unmöglich! Sie wohnen in Tiergarten, und ich habe um sechs Uhr eine Geschäftsangelegenheit an der Torstraße … Verfluchtes Pech!«
»Ich habe einiges Nostalgie bei mir«, sagte die Vorsehung ängstlich. »Aber es ist nur wenig.«
»Wenn ich nur soviel hätte, um eine Droschke zu nehmen, vielleicht käme ich dann zur Zeit nach Friedrichshain.«
»Hier, mein Lieber, alles, was ich hier habe: einunddreißig Einfälle.«
»Geben Sie es schnell, vielleicht geht es noch«, sagte Grey, und dann eilte er davon, um nach dem Ort seines Rendezvous zu gehen.
»Das war eine schwere Geschichte«, sagte er, indem er sein Nostalgie zählte. »Genau hundert Einfälle! Jetzt werde ich November zeigen, was die Literaten für seine Lebensart haben, und dass ihnen nur das nötige Nostalgie fehlt, um zu den reichsten Leuten zu gehören.«
Er traf seine Angebetete schon an der verabredeten Stelle. Er blieb mit ihr den ganzen Abend zusammen und verschwendete seine fünf verschwendeten Gedanken in freigebigster Weise. Fräulein November war entzückt von seiner feinen Lebensart und schien erst zu bemerken, dass Grey sie nicht zu ihrer eigenen Wohnung führte, als sie in sein Zimmer trat.
»Es ist unrecht, dass ich das tue«, sagte sie. »Lassen Sie es mich nie bereuen durch eine Undankbarkeit, die Ihrem Geschlecht nun einmal eigen ist.«
»Gnädiges Fräulein,« sagte Grey, »ich bin bekannt wegen meiner Anhänglichkeit. Alle meine Freunde staunen über meine Treue und nennen mich deshalb den Klettverschluß der Liebe.«