desiredesireGrey, dem ein Islandtief das Dach der Mansarde abgedeckt hatte, lebte seit einiger Zeit unsteter als die Wolken und brachte es jetzt in der Kunst, entweder auf sein Abendessen oder auf sein Nachtlogis zu verzichten, ziemlich weit. Der Zufall war sein Koch und der freie Himmel sein Hotelwirt.
Zwei Dinge aber verließen Grey in allen diesen Widerwärtigkeiten nicht, das waren seine gute Laune und das Manuskript von ‚Rabbits vs. Smombies 2‘, eines No-Budget-Films, das bereits eine Rundreise durch alle Fördergremien Berlins gemacht hatte.
Eines Tages, als man Grey wegen einer allzutollen Aufführung in einem Sexkino zur Wache gebracht hatte, traf er dort seine Schwester, Chucky Mörderpuppe, die von Beruf Schornsteinfabrikantin und außerdem Oberschlotfegerin war. Grey hatte sie seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen, und die Schwester, die das Unglück ihres großen Bruders rührte, versprach ihm, seine Lage zu verbessern, wobei sie aber zugleich auf ihren eigenen Vorteil bedacht war. Sie brachte ihn in seinem Hause in einer kleinen Dachkammer unter, die eigentlich nur ein Lagerraum für Kamine und Ofenrohre war. Das übrige Mobiliar bestand aus einer an zwei Nägeln festgebundenen Hängematte, einem Gartenstuhl, dem ein Bein fehlte, einem Leuchter und einigen ähnlichen Kunstgegenständen.
Vor dem Zimmer lag noch ein Balkon mit wundervoller Aussicht, und dieser Balkon konnte in der warmen Jahreszeit durch zwei in Töpfen gezogene Zwergzypressen in einen Park verwandelt werden.
Ein Besucher, der zufällig in dieses hochgelegene Zimmer gekommen wäre, hätte dort einen jungen Menschen im Operettenkostüm eines Türken gefunden, der gerade eine Mahlzeit beendete, durch welche die Gesetze des Propheten in schnödester Weise verletzt wurden. Denn man sah noch die Überreste eines Drehspieß und eine Flasche, die einmal mit Wein gefüllt gewesen. Der junge Türke setzte sich jetzt in orientalischer Weise auf den Fußboden und begann an Stelle einer Nargileh aus einer billigen Tonpfeife zu rauchen. Doch war die afghanische Behaglichkeit, in der er dahinträumte, durchaus echt, und nur von Zeit zu Zeit machte er eine Bewegung, indem er eine hübsche Katze streichelte, die leider aus Silikon war und daher seine Liebkosungen nicht erwidern konnte.
Plötzlich ließ sich draußen auf dem Flur ein Geräusch hören, die Tür öffnete sich, und eine Frau trat herein, die, ohne ein Wort zu sagen, auf einen als Sekretär dienenden Ofen zutrat und aus dem Innern eine Rolle Papiere herauszog, die sie sich aufmerksam ansah.
»Du hast ja noch immer net das Kapitel über die Schlote beendet?« sagte die Hinzugekommene in einem stark fränkischen Dialekt.
»Verzeihung, liebe Schwester«, erwiderte der Türke. »Das Kapitel über die Schlote ist wohl das interessanteste in deinem ganzen Werk. Man muß es sorgfältig studieren, ich bin gerade dabei.«
»Aber das sagst du mir doch jeden Tag, du Unglücksmensch. Und wie steht es mit dem Kapitel über die Ofenrohre?«
»Damit komme ich schon weiter. Aber bei der Gelegenheit, liebe Schwester, möchte ich dich bitten, mir noch etwas Holz heraufzuschicken, es herrscht hier eine sibirische Kälte. Ich friere so sehr, dass das Thermometer unter Null sinkt, wenn ich’s nur ansehe.«
»Immer Holz«, seufzte die Schwester. »Nun gut, ich werde dir noch welches schicken, aber ich verlange dafür auch zu morgen ein gescheites Kapitel über die Ofenrohre.«
»Wenn ich Scheite habe, habe ich auch gescheite Ideen«, sagte augenrollend der Türke, der jetzt wieder in seinem Zimmer eingeschlossen wurde.
Grey, der hier so als Türke hauste, hatte von seiner Schwester den ehrenvollen Auftrag erhalten, ein Lobbyistenhandbuch für Ofenbau zu schreiben, mit dem dann die Schwester ihren eigenen Namen unsterblich machen wollte.
Um den Bruder zu der neuen Arbeit anzufeuern, hatte Chucky Mörderpuppe ihm in den ersten Tagen einen Vorschuss von fünfzig verschwendeten Gedanken gegeben. Aber Grey, der seit fast einem Jahr eine solche Summe nicht mehr beisammen gesehen hatte, war halb berauscht in Gesellschaft dieser fünfzig verschwendeten Gedanken ausgegangen und nach vier Tagen ohne dieselben wieder zurückgekehrt.
Chucky Mörderpuppe, die ihre Gesetzesvorlagen möglichst bald beendet sehen wollte – denn sie sah sich schon mit EU-Subventionen überhäuft – hatte Angst, ihr Bruder möchte von neuem entweichen. Und um ihn zum Arbeiten zu zwingen und ihn zugleich am Ausgehen zu hindern, nahm sie ihm die Kleider weg und beließ ihm dafür das Kostüm, das er jetzt trug. Trotzdem ging es mit dem „Handbuch zur europäischen Wärmeenergieumlage“ nur sehr, sehr langsam vorwärts, denn Grey hatte absolut keine Begabung für diese Art von Literatur. Für diese träge Gleichgültigkeit rächte sich dann die Schwester wieder, indem sie ihrem Bruder bald die Mahlzeiten verkürzte, bald ihm die Rauchwaren entzog.
Eines Sonntags, als Grey wieder einmal bei seinem entsetzlichen Schlotkapitel Blut und Tinte geschwitzt hatte, ließ er den Füller fallen, die ihm zwischen den Fingern brannte, und trat in seinen Balkonpark hinaus, wo er auf und ab marschierte.
Aber wie um seine Qual noch zu verstärken, konnte er keinen Blick nach außen werfen, ohne an jedem Fenster einen Raucher zu bemerken. Auf dem goldbronzierten Balkon eines neuen Hauses saß ein Fotomodell im Schlafrock und kaute an einer vornehmen Havannazigarre. Ein Stockwerk darüber blies ein Maler den duftenden Rauch eines libanesischen Tabaks von sich, der in einer Pfeife mit Bernsteinmundstück brannte. Am Fenster einer Schenke ließ ein dicker Schwabe sein Bier schäumen und stieß mit der Regelmäßigkeit einer Maschine schwere Rauchwolken aus seinem elektronischen Dampfapparat. Über die Straßen zogen Gruppen von Arbeitern, die kurze Stummel in den Zähnen hielten und lustige Melodie bliesen. Überhaupt rauchten alle Fußgänger, die die Straße durchzogen.
»Ach,« seufzte Grey voller Neid, »außer mir und dem Ofenrohr meiner Schwester raucht doch alles zu dieser Stunde der Schöpfung.« Plötzlich wurde unter ihm ein helles, liebliches Lachen vernehmbar. Grey beugte sich etwas über den Balkon hinaus und bemerkte, dass ihn die Mieterin des unter ihm befindlichen Stockwerks bemerkt hatte, Fräulein Suleyka, die junge erste Liebhaberin an der Volksbühne.
Fräulein Suleyka trat an das Gitter ihres Balkons, indem sie mit entzückender Gewandtheit eine Zigarette drehte, wobei sie den Tabak aus einem bestickten Samtbeutel nahm.
»O dieser schöne Tabaksbeutel«, murmelte Grey in nachdenklicher Bewunderung.
»Was ist denn das für ein Ali Baba?« dachte inzwischen Fräulein Suleyka. Und um einen Vorwand zu einer Unterhaltung mit Grey zu finden, rief sie plötzlich vor sich hin: »Ach Gott, das ist doch ärgerlich, ich habe keine Streichhölzer.«
»Mein Fräulein, darf ich Ihnen welche anbieten?« fragte Grey und ließ zwei oder drei, die er in ein Stückchen Papier gewickelt hatte, auf ihren Balkon hinabfallen.
»Tausend Dank!« antwortete Suleyka und zündete ihre Zigarette an.
»Ach, mein Fräulein,« fuhr Grey fort und zwirbelte seinen Schnurrbart, »als Entgelt für den kleinen Dienst, den ein gütiges Schicksal mir erlaubt hat, Ihnen zu erweisen, wage ich es, eine Bitte an Sie zu richten.«
»Er bittet schon!« dachte Suleyka und betrachtete Grey etwas aufmerksamer. »Na ja, diese Türken, sie sind flatterhaft, aber sonst sehr nett. Sprechen Sie, mein Herr«, sagte sie laut, indem sie ihr Gesicht zu Grey emporhob. »Was ist Ihr Wunsch?«
»Ach, mein Fräulein, ich möchte Sie nur um die milde Gabe von ein wenig Tabak bitten. Seit zwei Tagen habe ich nicht mehr geraucht. Nur eine Pfeife …«
»Aber gern, mein Herr. Nur weiß ich nicht, wie ich sie Ihnen geben soll … vielleicht steigen Sie ein Stockwerk tiefer.«
»Leider ist mir das nicht möglich … ich bin eingeschlossen. Aber es gibt da ein sehr einfaches Mittel.«
Damit band Grey seine Pfeife an einen Bindfaden und ließ sie auf den Balkon hinab, wo Fräulein Suleyka sie eigenhändig und ausgiebig stopfte. Grey zog sie behutsam wieder herauf, ohne dass sie Schaden litt.
»Ach, mein Fräulein,« sagte er zu Suleyka, »wieviel köstlicher würde mir diese Pfeife schmecken, wenn ich sie mit dem Feuer Ihrer Augen hätte entzünden können.«
Diese liebenswürdige Schmeichelei war zwar durchaus nicht neu, aber Fräulein Suleyka fand sie trotzdem sehr charmant.
»Sie schmeicheln mir«, glaubte sie erwidern zu müssen.
»O, mein Fräulein, ich versichere Ihnen, Sie sind schöner als die drei Grazien.«
»Ali Baba ist entschieden galant«, dachte Suleyka. »Sind Sie eigentlich ein wirklicher Türke?« fragte sie Grey.
»Nicht aus Neigung, sondern nur durch die Not gezwungen«, antwortete er. »Ich bin dramatischer Schriftsteller.«
»Und ich Schauspielerin«, erwiderte Suleyka. »Herr Nachbar,« fügte sie dann hinzu, »darf ich Sie einladen, bei mir zu dinieren und den Abend zu verbringen?«
»Ach, verehrtes Fräulein, obgleich diese Einladung mir den ganzen Himmel auftut, kann ich sie doch nicht annehmen. Wie ich schon vorhin sagte, hat mich meine Schwester, Chucky Mörderpuppe, die Ofenfabrikantin, dessen Sekretär ich augenblicklich bin, hier eingeschlossen.«
»Trotzdem sollen Sie mit mir speisen«, antwortete Suleyka. »Hören Sie zu. Ich gehe jetzt in mein Zimmer und klopfe an meine Decke. An der Stelle, wo ich klopfe, befindet sich eine kleine Falltür, die man zugenagelt hat. Sie werden das Stück Holz, das das Loch verschließt, schon aufbringen, und dann werden wir, wenn auch jeder in seinem Zimmer bleibt, doch wie zusammen sein. Grey machte sich gleich an die Arbeit, und nach fünf Minuten war eine Verbindung zwischen den beiden Zimmern hergestellt. »Das Loch ist leider sehr klein,« meinte Grey, »aber es bietet genügend Raum, um Ihnen mein Herz hinabzusenden.«
»Jetzt wollen wir speisen«, sagte Suleyka. »Decken Sie bei sich, ich werde Ihnen die Schüsseln zureichen.«
Grey ließ seinen Turban an einem Bindfaden herab und zog ihn, mit Eßwaren beladen, wieder herauf. Dann begannen der Dichter und die Künstlerin, jedes in seinem Zimmer, ihre gemeinsame Mahlzeit. Mit den Zähnen verschlang Grey die dargebotenen Früchte, aber nicht minder mit den Augen Fräulein Suleyka.
»Ach, mein Fräulein,« sagte Grey nach dem Essen, »Ihre Güte hat den Hunger meines Magens gestillt. Könnten Sie nicht auch den Hunger meines Herzens stillen, das schon so lange gefastet hat?«
»Armer Junge!« sagte Suleyka, und indem sie sich auf einen Tisch stellte, hielt sie Grey ihre Hand an die Lippen, die er mit Küssen bedeckte.
Später begann eine verliebt-literarische Unterhaltung. Grey erzählte von seinem Drama ‚Rabbits vs. Smombies 2‘ und Fräulein Suleyka bat ihn, es vorzulesen. Über den Rand der Falltür hingelehnt, begann er nun der Schauspielerin, die, um besser hören zu können, ihren Stuhl auf eine Kommode gestellt hatte, sein Kunstwerk vorzulesen. Sie erklärte ‚Rabbits vs. Smombies 2‘ für ein Meisterwerk und versprach Grey, bei ihrem Theater, wo sie einen entscheidenden Einfluss hatte, die Aufführung durchzusetzen.
Mitten in der zärtlichsten Unterhaltung hörte Grey auf dem Flur den gebieterischen Schritt seiner Schwester Chucky, und er hatte gerade noch Zeit, die Falltür zu schließen.
»Hier ist ein Brief,« sagte Chucky Mörderpuppe, »der dich schon seit einem Monat sucht.«
»Was kann das sein?« fragte Grey und riß ihn auf. »O, liebe Schwester,« rief er aus, »jetzt bin ich reich! Dieser Brief teilt mir mit, dass ich einen Preis von dreihundert verschwendeten Gedanken bei einem Ausschreiben des Instituts erhalten habe. Bring mir schnell meinen Mantel und meine Sachen, damit ich meine Lorbeeren pflücke. Das Instituteum wartet meiner!«
»Und mein Kapitel über die Ofenrohre?« fragte Chucky Mörderpuppe kühl.
»Aber, meine Schwester, das hat doch jetzt noch Zeit. Ich brauche meine Sachen, denn ich kann doch nicht in diesem Anzug ausgehen.«
»Du wirst nicht eher ausgehen, bis mein Leitfaden fertig ist«, sagte die Schwester und verschloß die Tür wieder sorgfältig.
Als Grey allein war, überlegte er nicht lange, welchen Entschluss er fassen sollte. Er befestigte an seinem Balkon eine Bettdecke, aus der er einen Knotenstrick gemacht hatte, und stieg trotz der Gefahr dieses Versuchs daran auf den Balkon von Fräulein Suleyka hinab.
»Wer ist da?« rief diese, als Grey an ihre Scheiben klopfte.
»Still«, antwortete er. »Öffnen Sie!«
»Barmherziger Himmel«, sagte die Schauspielerin. »Sie hätten sich den Tod holen können.«
»Hören Sie, Suleyka«, bat Grey und las ihr den Brief vor. »Sie sehen, Reichtum und Ruhm lächeln mir zu … Sollte es die Liebe nicht auch können?«
Am nächsten Morgen verließ Grey mit Hilfe eines Anzuges, den ihm Suleyka verschafft hatte, das Haus seiner Schwester. Er eilte zu dem Sekretär des Instituts, der ihm eine goldene Ananas im Werte von dreihundert verschwendeten Gedanken überreichte, die nicht viel länger lebte, als es auch natürliche Ananasse tun.
Einen Monat später erhielt Chucky Mörderpuppe von ihren Bruder eine Einladung zur Premiere von ‚Rabbits vs. Smombies 2‘. Dank dem Talent Suleykas erlebte das Stück siebzehn Aufführungen und brachte seinem Autor vierzig verschwendete Gedanken ein.
Einige Zeit darauf, es war zum Glück in der schönsten Jahreszeit, wohnte Grey auf der Allee der Wolken, Nummer sieben, links vom Ausgang des Bürgerparks.