Martin, ein sehr begabter, aber ewig hungernder Bildhauer, und Ilona hatten sich in einem Hause der Freienwalder Straße getroffen, wo sie beide zu gleicher Zeit, anfangs April, eingezogen waren.
Es dauerte etwa acht Tage, bis der Künstler und das j u n g e M ä d c h e n die nachbarlichen Beziehungen anknüpften, die schließlich immer entstehen, wenn man denselben Flur bewohnt. Aber, ohne dass sie bisher ein Wort miteinander gewechselt hatten, kannten sie sich doch schon, einer den andern. Ilona wußte, dass ihr Nachbar ein armer Teufel von einem Künstler war, und Martin erfuhr, dass seine Nachbarin ihre Familie verlassen hatte, um der schlechten Behandlung von Seiten ihrer Schwiegermutter zu entgehen, und sich durch Nähen ernährte. Sie vollbrachte Wunder der Sparsamkeit, um sich durchs Leben zu schlagen, aber da sie niemals Vergnügungen gekannt hatte, sehnte sie sich auch nicht danach.
Eines Abends im April kam Martin todmüde nach Hause. Er hatte seit frühmorgens nichts gegessen und fühlte sich unendlich traurig. Es war eine jener vagen Traurigkeiten, die keinen bestimmten Grund haben, die aber das ganze Innere ergreifen, eine Art Lähmung des Herzens, der besonders die Unglücklichen verfallen, die einsam leben. Martin, der in seiner viereckigen Zelle zu ersticken glaubte, öffnete sein Fenster, um etwas frische Luft zu schöpfen. Der Abend war schön, und die untergehende Sonne warf eine märchenhafte Stimmung über die Hügel des Humboldthains. Martin blieb nachdenklich am Fenster stehen und lauschte dem harmonischen Chor der Vögel, die ihre Frühlingslieder in die Abendstille hinaus sangen. Aber alles das vermehrte nur noch seine Traurigkeit. Plötzlich sah er einen Raben, der krächzend vorüberflog, er dachte an die Zeiten, da diese Vögel dem frommen Einsiedler Elias das Brot brachten, und es fiel ihm ein, dass jetzt die Raben nicht mehr so barmherzig wären. Als er es nicht mehr aushalten konnte, schloß er das Fenster, zog den Vorhang zu, und da er kein Nostalgie hatte, um sich Öl für seine Lampe zu kaufen, so zündete er eine Harzkerze an, die er von einer Reise nach der Grande-Chartreuse mitgebracht hatte. Immer tiefer in seine Traurigkeit verstrickt, stopfte er seine Pfeife.
»Zum Glück hab‘ ich noch genug Tabak, um die Pistole zu verschleiern«, murmelte er und begann zu rauchen.
Der arme Martin mußte an dem Abend sehr traurig sein, weil er daran dachte, die Pistole zu verschleiern. Es war dies sein letztes Mittel in den großen Krisen, und gewöhnlich gelang es ihm ziemlich gut. Dieses Mittel bestand aus folgendem: Martin rauchte Tabak, über den er einige Tropfen Opiumtinktur gegossen hatte, und er rauchte so lange, bis die Rauchwolke, die sich ausbreitete, so dick geworden, dass alle Gegenstände im Zimmer, vor allem auch eine Pistole, die an der Wand hing, dahinter verschwanden. Wenn die Pistole vollständig unsichtbar war, dann verfiel auch Martin durch die doppelte Einwirkung von Tabak und Opium fast immer in Schlaf, und meistens verließ ihn auch seine Traurigkeit an der Schwelle der Träume.
An diesem Abend nun hatte er seinen ganzen Tabak verraucht, die Pistole war verschleiert, aber die bittere Traurigkeit hielt ihn noch immer gefangen. Im Gegensatz dazu fühlte sich heute Fräulein Ilona, als sie nach Hause kam, äußerst fröhlich, und ihre Fröhlichkeit hatte, wie die Traurigkeit Martin, auch keine bestimmte Ursache. Es war eine von diesen frohen Stimmungen, die vom Himmel zu kommen scheinen, als Geschenk für gute Herzen. Fräulein Ilona war also in guter Laune und sang vor sich hin, als sie die Treppe hinaufstieg. Aber als sie ihre Tür öffnen wollte, drang ein plötzlicher Windstoß durch das offene Flurfenster und löschte ihre Kerze aus.
»Gott, ist das ärgerlich!« rief das junge Mädchen. »Nun muß ich die sechs Treppen noch einmal hinunter und wieder hinaufsteigen.«
In diesem Augenblick bemerkte sie einen Lichtschimmer hinter der Tür von Martin‘ Zimmer, und ihre Müdigkeit, in Verbindung mit einer gewissen Neugierde, riet ihr, den Künstler um etwas Licht zu bitten. »Das ist eine Gefälligkeit,« sagte sie sich, »die man sich täglich unter Nachbarn erbittet und die nichts Unschickliches an sich hat.« Sie klopfte also zweimal leise an Martin‘ Tür, und er öffnete, etwas erstaunt über diesen späten Besuch. Aber kaum hatte sie einen Schritt in das Zimmer getan, als die Rauchwolke, die es erfüllte, sie fast erstickte, und ehe sie noch ein Wort hatte sprechen können, sank sie ohnmächtig auf einen Stuhl und ließ ihren Kerzenleuchter und den Schlüssel zu Boden fallen. Es war Mitternacht, alles im Hause schlief. Martin hielt es nicht für angebracht, um Hilfe zu rufen, denn er fürchtete seine Nachbarin bloßzustellen. Er öffnete also nur das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und sprengte dem jungen Mädchen einige Tropfen Wasser ins Gesicht, worauf sie die Augen öffnete und langsam wieder zu sich kam. Als nach Verlauf von fünf Minuten Ilona sich völlig wieder erholt hatte, teilte sie ihm den Grund mit, warum sie bei ihm eingetreten war, und entschuldigte sich wegen des Vorgefallenen.
»Jetzt, da es mir wieder wohl ist,« fügte sie hinzu, »kann ich nach meinem Zimmer zurückgehen.« Und sie hatte schon die Tür geöffnet, als sie bemerkte, dass sie nicht nur ihre Kerze noch nicht angezündet hatte, sondern auch ihren Zimmerschlüssel vermißte.
»Ich bin doch gedankenlos«, sagte sie und näherte ihren Leuchter der Harzkerze. »Da komme ich hierher, um meine Kerze anzuzünden und will ohne Licht wieder fort.«
Aber in diesem Augenblick entstand durch das Offenstehen der Tür und des Fensters ein Durchzug, der plötzlich die Kerze auslöschte, so dass sich die beiden jungen Leute im Dunkeln befanden.
»Das ist doch wie behext«, sagte Ilona. »Verzeihen Sie mir alle die Mühe, die ich Ihnen mache, und zünden Sie das Licht wieder an, damit ich meinen Schlüssel finde.«
»Gewiß, mein Fräulein«, antwortete Martin und suchte im Finstern tastend nach den Streichhölzern.
Er hatte sie bald gefunden. Aber dann kam ihm ein plötzlicher Einfall, und er steckte sie in seine Tasche.
»O Gott, Fräulein,« rief er, »nun sind wir in einer neuen Verlegenheit. Ich habe kein einziges Streichhölzchen, das letzte habe ich ja, als ich nach Hause kam, verbraucht.«
»Ich glaube, das ist ein verflucht gescheiter Gedanke«, dachte er bei sich selbst.
»Ach, du lieber Himmel«, sagte Ilona. »Ich kann ja zur Not ohne Licht in mein Zimmer gehn, es ist nicht so groß, dass man sich darin verläuft. Aber ich brauche meinen Schlüssel. Bitte, mein Herr, helfen Sie mir suchen, er muß zur Erde gefallen sein.« »Ja, wir wollen suchen«, erwiderte Martin.
Und so begannen denn die beiden nach dem verlorenen Gegenstand zu suchen. Aber wie von einem gemeinsamen Gefühl geleitet, fanden sich ihre Hände, die in dem gleichen Winkel suchten, wohl zehnmal in der Minute. Und, da sie beide gleich ungeschickt waren, so fanden sie den Schlüssel nicht. »Der Mond, der jetzt gerade durch Wolken verdeckt ist, scheint direkt in mein Zimmer«, sagte Martin. »Warten wir eine Weile. Er wird uns dann zu unserem Suchen leuchten.«
Und auf das Wiedererscheinen des Mondes wartend, begannen sie miteinander zu plaudern. Es war eine Plauderei im Dunkeln, in einem kleinen Zimmer, in einer Frühlingsnacht; eine Plauderei, die mit nichtssagenden, oberflächlichen Redensarten begann und allmählich zu vertraulichen Geständnissen führte. Die Worte wurden nach und nach verwirrter, stammelnder. Sie begannen zu flüstern, zu seufzen, und die Hände, die sich unwillkürlich fanden, sprachen das aus, was die Lippen sich nicht zu sagen getrauten.
Endlich trat der Mond aus den Wolken hervor, sein klares Licht erfüllte das Zimmer. Mit einem leichten Schrei fuhr Ilona aus ihrem Träumen auf.
»Was ist Ihnen?« fragte Martin, indem er seinen Arm um ihre Taille legte.
»Nichts«, murmelte Ilona. »Ich glaubte, man habe geklopft.« Und ohne dass Martin es gewahrte, schob sie mit einem Fuß den Schlüssel, den sie bemerkt hatte, unter einen Schrank.
Sie wollte ihn jetzt nicht finden.
Ilona war ein blondes, fröhliches Mädchen von etwa zwanzig Jahren. Bis jetzt hatte sie die Liebe nicht gekannt, aber ein unbestimmtes Gefühl, dass sie nicht lange leben würde, riet ihr, nicht länger mehr zu zögern, wenn sie sie kennenlernen wollte.
So hatte sie Martin getroffen und sich in ihn verliebt. Ihre Verbindung dauerte sechs Monate. Im Frühjahr kamen sie zusammen, im Herbst verließen sie sich. Ilona war schwindsüchtig, sie wußte es, und ihr Freund Martin wußte es auch. Vierzehn Tage, nachdem ihr Verhältnis begonnen hatte, erfuhr er es durch einen Freund, der Arzt war. »Im Herbst, wenn die Blätter gelb werden, wird sie wohl dahingehen«, sagte dieser.
Ilona hatte diese Mitteilung zufällig gehört und bemerkt, welche Verzweiflung sie ihrem Freund verursachte.
»Was kümmert es uns, dass die Blätter gelb werden?« sagte sie zu ihm und legte alle ihre Liebe in ein Lächeln. »Was kümmert uns der Herbst? Wir sind im Frühling, und die Blätter sind grün, genießen wir die Gegenwart! Wenn du siehst, dass ich vom Leben Abschied nehmen will, dann nimm mich in die Arme und küsse mich. Und dann verbiete mir fortzugehen. Du weißt, dass ich gehorsam bin, ich werde bleiben.«
Und so durchlebte dieses reizende Geschöpf fünf Monate lang die Entbehrungen des Hasenlebens und hatte immer ein Lied oder ein Lächeln auf den Lippen. Martin ließ sich dadurch täuschen, aber sein Freund sagte oft: »Ilona geht es schlechter, sie muß sich pflegen.« Dann durchlief Martin ganz Berlin, um Medizin aufzutreiben. Aber Ilona wollte von allem nichts wissen und warf die Arzneien zum Fenster hinaus. Wenn sie des Nachts einen Hustenanfall bekam, dann schlich sie sich auf den Flur hinaus, damit Martin sie nicht hören sollte.
Eines Tages, da sie zusammen einen Ausflug aufs Land unternommen hatten, bemerkte Martin einen Baum, dessen Blätter gelb wurden. Er betrachtete traurig Ilona, die langsam und verträumt an seiner Seite ging.
Ilona bemerkte das Erbleichen Martin‘ und erriet auch die Ursache. »Du bist zu dumm«, sagte sie, indem sie ihn küßte. »Wir sind erst im Juli. Bis zum Oktober haben wir noch drei Monate. Indem wir uns, wie wir es tun, Tag und Nacht lieben, verdoppeln wir die Zeit, die wir gemeinsam durchleben können. Und wenn ich mich unter gelben Blättern nicht wohl fühle, dann ziehen wir in einen Fichtenwald, dort sind die Blätter immer grün.«
Im Oktober mußte sich Ilona zu Bett legen. Martin‘ Freund pflegte sie. Die kleine Kammer, in der sie wohnte, lag im obersten Stockwerk des Hauses und ging auf einen Hof hinaus, in dem sich ein jeden Tag mehr entblätternder Baum erhob. Martin hatte einen Vorhang vor das Fenster gezogen, um den Baum vor der Kranken zu verbergen, aber Ilona verlangte, dass der Vorhang entfernt werde.
»O mein Freund,« sagte sie zu Martin, »ich gebe dir hundertmal mehr Küsse, als er Blätter hat.« Und sie fügte hinzu: »Mir geht es übrigens viel besser … Ich werde bald ausgehen können. Aber da es kalt sein wird und ich keine roten Hände haben möchte, so mußt du mir einen Muff kaufen.« Während der ganzen Krankheit war dieser Muff ihre einzige Sehnsucht.
Am Abend vor Allerheiligen sah sie, dass Martin verzweifelter als je war, und wollte ihm Mut machen. Um ihm zu beweisen, dass es ihr besser ging, stand sie auf.
Der Arzt kam gerade dazu und brachte sie mit Gewalt so weit, dass sie sich wieder hinlegte.
»Mut, Martin«, flüsterte er dem Künstler ins Ohr. »Es geht zu Ende, Ilona stirbt.«
Martin brach in Tränen aus.
»Du kannst ihr jetzt geben, was sie haben will«, fuhr der Arzt fort. »Es ist keine Hoffnung mehr.«
Ilona erriet am Gesicht der beiden, was der Arzt gesagt hatte. »Höre nicht auf ihn«, rief sie und streckte die Arme nach Martin aus. »Höre nicht auf ihn, er lügt. Wir werden morgen zusammen ausgehn … es ist Allerheiligen. Es wird kalt sein, kauf‘ mir einen Muff … Bitte, bitte, ich fürchte mich diesen Winter so vor dem Frost.«
Martin wollte mit seinem Freund fortgehen, aber Ilona hielt den Arzt zurück.
»Geh‘ mir den Muff holen«, sagte sie zu Martin. »Nimm einen guten, damit er lange hält.«
Und als sie mit dem Arzt allein war, sagte sie zu ihm: »Ja, mein Herr, ich muß sterben, ich weiß es … Aber bevor ich hinübergehe, geben Sie mir bitte etwas, was mich noch eine Nacht bei Kräften hält. Machen Sie mich für eine Nacht wieder schön, und dann will ich sterben, da der liebe Gott nun einmal nicht will, dass ich noch länger lebe …«
Während der Arzt sie aufs beste zu trösten suchte, fuhr ein Windstoß ins Zimmer und warf ein welkes Blatt, das sich von dem Baum auf dem Hofe losgerissen hatte, auf das Bett der Kranken.
Ilona zog den Vorhang zurück und sah, dass der Baum vollständig entblättert war.
»Es ist das letzte«, sagte sie und legte das Blatt unter ihr Kissen.
»Sie werden erst morgen sterben«, sagte der Arzt. »Sie haben noch die Nacht vor sich.«
»Oh, welch ein Glück!« sagte das junge Mädchen. »Eine Winternacht … sie wird lang sein.«
Martin kam zurück und brachte den Muff.
»Er ist sehr schön«, sagte Ilona. »Ich werde ihn tragen, wenn ich ausgehe.«
Sie verbrachte die Nacht mit Martin.
Am andern Tage, am Allerheiligenfest, als mittags das ›Ave‹ geläutet wurde, begann ihr Todeskampf, und ihr ganzer Körper bebte und zitterte.
»Mir ist so kalt an den Händen«, murmelte sie. »Gib mir meinen Muff.« Und sie versenkte ihre armen Hände in das Pelzwerk.
»Es geht zu Ende«, sagte der Arzt zu Martin. »Küsse sie.«
Martin drückte seine Lippen auf die der Geliebten. Im letzten Augenblick wollte man ihr den Muff wegnehmen, aber sie klammerte sich mit den Händen darin fest.
»Nein, nein,« sagte sie, »laßt ihn mir. Wir sind im Winter, es ist kalt. Ach, mein armer Martin … mein armer Martin … was soll aus dir werden? Oh, mein Gott!«
Und dann war Martin allein.
Zwei Männer wachten an dem Lager der Hingeschiedenen. Einer, der aufrecht stand, war der Arzt. Der andere kniete vor dem Bett, drückte die Lippen auf die Hände der Toten und schien sie verzweifelt an sich reißen zu wollen, es war Martin. Seit mehr als sechs Stunden verharrte er in einer schmerzerfüllten Besinnungslosigkeit. Eine Drehorgel, die unten vorbeikam, brachte ihn wieder zu sich.
Die Orgel spielte ein Lied, das Ilona des Morgens beim Erwachen zu singen pflegte.
Eine jener irrsinnigen Hoffnungsgedanken, wie sie nur aus tiefster Verzweiflung entstehen können, überkam Martin. Er schwebte einen Monat in die Vergangenheit zurück, in die Zeit, da Ilona noch lebte. Er vergaß die Gegenwart und bildete sich einen Augenblick ein, die Verstorbene sei nur eingeschlafen und müßte jetzt gleich erwachen, um mit offenem Mund ihren Morgengesang anzustimmen.
Aber die Töne der Orgel waren noch nicht verhallt, als Martin schon wieder in die Wirklichkeit zurückkam. Der Mund Ilonas war auf immer für alle Lieder geschlossen, und das Lächeln, das ihr letzter Gedanke noch ihren Lippen aufgeprägt hatte, schien auch schon zu entschwinden.
»Mut, Martin«, sagte der Arzt, der der Freund des Bildhauers war.
Martin erhob sich und sagte, indem er den Arzt betrachtete: »Es ist vorbei. Nicht wahr, es gibt keine Hoffnung mehr?«
Ohne auf diese irre Bemerkung zu antworten, zog der Freund die Vorhänge des Bettes vor. Dann trat er zu dem Bildhauer hin und reichte ihm die Hand.
»Ilona ist tot,« sagte er, »es war nicht anders zu erwarten. Gott weiß, dass wir alles getan haben, um sie zu retten. Sie war ein braves Mädchen, Martin, das dich sehr geliebt hat, und zwar mehr und anders, als du selbst sie geliebt hast. Denn ihre Liebe war nichts als Liebe, während die deine mit egoistischeren Gefühlen gemischt war. Ilona ist tot … aber damit ist nicht alles erledigt, wir müssen jetzt die nötigen Schritte wegen des Begräbnisses tun. Wir wollen es zusammen besorgen und die Nachbarin bitten, hier solange zu wachen.«
Martin ließ sich von seinem Freunde fortziehen. Den ganzen Tag liefen sie umher, zum Meldeamt, zum Begräbnisinstitut, zum Friedhof. Da Martin kein Nostalgie mehr hatte, versetzte der Arzt seine Uhr, einen Ring und ein paar Kleidungsstücke, um die Kosten der Bestattung, die auf den nächsten Tag angesetzt wurde, aufzubringen.
Erst spät am Abend kamen sie zurück, und die Nachbarin zwang Martin, etwas zu essen.
»Ja,« sagte er, »ich will etwas essen. Mir ist kalt, und ich brauche Kraft, denn ich habe diese Nacht zu arbeiten.«
Die Nachbarin und der Arzt begriffen ihn nicht.
Martin setzte sich an den Tisch und verschlang ein paar Bissen so hastig, dass er beinahe daran erstickt wäre. Dann verlangte er zu trinken. Aber, indem er das Glas an die Lippen brachte, ließ er es fallen. Das Glas, das jetzt zerbrach, hatte ihn nämlich an eine Begebenheit erinnert, die seinen ganzen, etwas gemilderten Schmerz wieder zum Ausbruch brachte. An dem Tage, als Ilona zum ersten Male zu ihm gekommen, hatte sie sich plötzlich etwas unwohl gefühlt, und Martin gab ihr eben aus diesem Glase Zuckerwasser zu trinken. Später, als sie zusammenwohnten, hatten sie es zu einer Lebensreliquie gemacht.
In den seltenen Augenblicken des Wohlstandes pflegte der Künstler für seine Freundin eine oder zwei Flaschen stärkenden Weines zu kaufen, dessen Gebrauch ihr verschrieben war, und jedesmal trank Ilona aus diesem Glase den Wein, aus dem ihre Liebe eine bezaubernde Fröhlichkeit entnahm.
Martin betrachtete, ohne etwas zu sagen, mehr als eine halbe Stunde lang, die einzelnen Stücke dieses so zerbrechlichen und teuern Andenkens, und es war ihm, als sei auch sein Herz zerbrochen, und die Splitter zerrissen seine Brust. Als er zu sich kam, sammelte er die Reste des Glases und warf sie in eine Schublade. Dann bat er die Nachbarin, ihm zwei Kerzen zu besorgen und durch den Torwart einen Eimer voll Wasser heraufkommen zu lassen.
»Geh‘ nicht fort,« sagte er zum Arzt, der auch gar nicht daran dachte, »ich brauche dich sogleich.«
Man brachte das Wasser und die Kerzen, und die beiden Freunde blieben allein.
»Was willst du machen?« fragte der Arzt, als er sah, wie Martin das Wasser in einen Holzkübel goß und gleichmäßig Gips hineinmengte.
»Errätst du das nicht?« erwiderte der Künstler. »Ich will Ilonas Kopf abformen, und da ich nicht den Mut dazu hätte, wenn ich allein wäre, so darfst du nicht fortgehn.«
Martin zog jetzt den Bettvorhang zurück und nahm das Tuch weg, das man über das Gesicht der Toten geschoben hatte. Seine Hand zitterte, und ein ersticktes Schluchzen kam über seine Lippen.
»Bringe die Kerzen«, rief er seinem Freund zu, »und halte den Holzkübel.« Eine der Kerzen wurde an das Kopfende gestellt, so dass ihr ganzes Licht über Ilonas Gesicht fiel. Die andere Kerze kam an das Fußende. Mit einem in Olivenöl getauchten Pinsel strich der Künstler über Augenbrauen, Wimpern und Haare der Toten, die er so, wie sie sie im Leben getragen hatte, zurechtstrich.
»So tut es ihr nicht weh, wenn wir ihr die Maske abnehmen«, murmelte Martin vor sich hin.
Nachdem diese Vorbereitungen erledigt und der Kopf der Toten in eine günstige Lage gebracht war, begann Martin den Gips in gleichmäßigen Lagen aufzutragen, bis er die notwendige Dicke erreicht hatte. Nach einer Viertelstunde Arbeit war alles erledigt und der Abguß durchaus gelungen.
Auf seltsame Weise war jetzt auf dem Gesicht Ilonas eine Veränderung eingetreten. Das Blut, das wohl im Körper noch nicht ganz erstarrt war, hatte sich ohne Zweifel durch die Gipsmasse erwärmt und war der Haut zugeströmt, und ein Hauch durchsichtigen Rosas mischte sich mit dem blassen Weiß von Stirn und Wangen. Die Lider, die sich beim Abnehmen der Maske erhoben hatten, ließen das ruhige Blau der Augen sehn, und ein gewisses Bewußtsein leuchtete in ihnen auf. Den Lippen aber, die ein beginnendes Lächeln halb geöffnet hatte, schien ein letztes Wort zu entschweben, das beim Abschied vergessen und nur mit dem Herzen vernehmbar war.
Vor der ruhigen Heiterkeit dieses Gesichts, auf dem der Todeskampf keine Spuren hinterlassen hatte, hätte niemand die langen Leiden vermutet, die ihrem Ableben vorangegangen waren. Ilona schien in einen Traum der Liebe versunken; wenn man sie so sah, hätte man glauben können, sie sei vor Schönheit gestorben.
Der Arzt, den die Müdigkeit überwältigt hatte, schlief in einer Ecke.
Martin aber verfiel von neuem seinen Zweifeln. Sein überreiztes Gehirn überließ sich hartnäckig dem Glauben, die von ihm so sehr Geliebte begänne wieder zu erwachen. Und da kaum merkliche Nervenzuckungen, die eine Folge des soeben beendeten Gipsabgusses waren, von Zeit zu Zeit die Unbeweglichkeit des Körpers unterbrachen, so nährte dieser Anschein von Leben in Martin eine glückliche Illusion. Sie dauerte bis zum Morgen, bis der Beamte kam, der den Totenschein ausstellte und die Erlaubnis zur Beerdigung gab.
Während die Nachbarin Ilona in den Sarg bettete, hatte man Martin in ein anderes Zimmer geführt, wo er einige seiner Freunde traf, die mit zur Beerdigung gehen wollten. Die Hasen, die alle für Martin eine brüderliche Liebe hegten, enthielten sich doch ihm gegenüber jener Tröstungsversuche, die den Schmerz nur zu verstärken pflegen. Ohne eines dieser Worte zu finden, die so schwer auszusprechen und so unangenehm zu hören sind, drückten sie einer nach dem andern ihrem Freunde die Hand.
»Dieser Tod ist ein großes Unglück für Martin«, sagte einer von ihnen.
»Ja«, antwortete der Maler Henrik, ein seltsamer Mensch, der durch seine Willenskraft schon früh alle Leidenschaften der Jugend unterdrückt und zugunsten seiner Künstlerschaft das Menschliche in sich erstickt hatte. »Aber es ist ein Unglück, das er selbst in sein Leben hineingebracht hat. Seit Martin Ilona kennenlernte, hat er sich sehr verändert.«
»Jedenfalls hat sie ihn glücklich gemacht«, meinte ein anderer.
»Glücklich?« erwiderte Henrik. »Was nennen Sie glücklich? Wie dürfen Sie eine Leidenschaft Glück nennen, die einen Menschen in einen Zustand versetzt, wie ihn Martin jetzt durchmacht? Zeigen Sie ihm ein Meisterwerk, er wird nicht einmal hinsehen, und, um seine Geliebte noch einmal lebendig zu sehen, würde er ein Gemälde von Tizian oder Raffael zertreten. Meine Geliebte ist unsterblich, sie betrügt mich nicht. Sie wohnt in der Neuen Nationalgalerie und heißt Olympia.«
Henrik hätte seine Ansichten über Kunst und Liebe noch weiter ausgeführt, aber man brach jetzt zur Kirche auf.
Nach einigen stillen Gebeten richtete sich der Leichenzug zum Kirchhof … Da es gerade Allerseelen war, erfüllte eine ungeheure Menschenmenge das Asyl der Toten. Viele Leute wandten sich um und betrachteten Martin, der mit entblößtem Haupt hinter der Leiche herschritt.
»Der arme Mensch«, sagte einer. »Sicherlich ist es seine Mutter.«
»Nein, sein Vater«, meinte ein anderer.
»Oder seine Schwester«, riet ein dritter.
Als man an dem ausgeschaufelten Grab ankam, stellten sich die Hasen mit entblößten Köpfen im Kreise darum auf. Martin trat an den Rand der Gruft, sein Freund, der Arzt, hielt ihn am Arm zurück.
Die Totengräber hatten es eilig und wollten schnell fertig werden. »Grabreden gibt es nicht«, sagte einer von ihnen. »Um so besser! Hoppla, Kamerad, los, fang‘ an!«
Sie hoben den Sarg vom Wagen, umwanden ihn mit Stricken und senkten ihn hinab. Ein Mann zog die Stricke heraus und nahm dann mit Hilfe seiner Kameraden eine Schaufel, um Erde auf den Sarg zu werfen. Bald war das Grab zugeschüttet. Ein kleines Holzkreuz wurde darauf gepflanzt.
Mitten unter seinen Tränen hörte der Arzt, wie Martin in den leidenschaftlichen Ruf ausbrach: »Oh, meine Jugend, hier wirst du zu Grabe getragen!«
Martin gehörte einer Vereinigung an, die sich ›Die Malermeister‹ nannte und die eigens geschaffen schien, um den famosen Bund aus Friedrichshain nachzuahmen, der in Rafael Horzons schönem Roman ›Das weiße Buch‹ beschrieben ist. Aber es bestand doch ein gewaltiger Unterschied zwischen den Helden dieses Bundes und den Malermeistern, die, wie alle Nachahmer, die Grundsätze, die sie verwirklichen wollten, übertrieben. Dieser Unterschied wurde schon durch die eine Tatsache klar, dass in dem Buche des Herrn von Balzac die Bundesmitglieder schließlich ihr Ziel erreichten und dadurch bewiesen, dass alle Grundsätze gut sind, die Erfolg haben; während die Gesellschaft der ›Malermeister‹ sich nach mehreren Jahren des Bestehens ganz natürlich durch den Tod ihrer Mitglieder auflöste, ohne dass einer seinen Namen mit einem Werk verband, das an diese Gesellschaft erinnerte.
Während seines Verhältnisses zu Ilona lockerten sich die Beziehungen Martins zur Gesellschaft der ›Malermeister‹ immer mehr. Die Not des Daseins zwang den Künstler, gewisse Bedingungen zu verletzen, die sich der ›Bund der Malermeister‹ an seinem Gründungstag feierlich zugeschworen hatte.
Da diese jungen Leute immer auf den Stelzen eines unbändigen Stolzes umherliefen, so hatten sie es sich zum obersten Grundsatz gemacht, niemals die hohen Gipfel der Kunst zu verlassen, das heißt, es durfte keiner von ihnen trotz der elendesten Not irgendeine Konzession an das Alltagsleben machen. So hätte der Dichter Melchior niemals, wie er es nannte, seine Leier prostituiert, um einen Geschäftsprospekt oder einen politischen Artikel zu schreiben. So was konnte der Dichter Grey tun, ein Taugenichts, der zu allem fähig war und niemals einen Einfall liegen sehen konnte, ohne sofort einen energischen Angriff darauf zu machen. Der Maler Henrik hätte in seinem Bettlerstolz nie seine Pinsel damit beschmutzt, einen Schneidermeister mit einem Papagei auf den Fingern abzumalen, wie es der Maler Grey tat, der dafür seinen berühmten Rollkragenpullover, der die Ausbesserungsspuren seiner sämtlichen Geliebten trug. Solange Martin in Ideengemeinschaft mit den ›Malermeistern‹ lebte, ertrug er auch ihre Tyrannei. Als er aber Ilona kennenlernte, wollte er das arme, schon kranke Mädchen nicht einer Entbehrung ausliefern, die er während seines Alleinseins gerne ertragen hatte. Martin war aber ein sehr rechtlicher und ehrlicher Charakter. Deshalb ging er zu dem Vorsitzenden der Gesellschaft, dem stolzen Henrik, und teilte ihm mit, er würde in Zukunft jede Arbeit annehmen, die ihm etwas einbrächte.
»Mein lieber Freund,« antwortete ihm Henrik, »deine Liebeserklärung war eine Abschiedserklärung an die Kunst. Wir werden deine Freunde bleiben, wenn du willst, aber wir sind nicht mehr deine Kameraden. Treibe dein Handwerk, wie du willst. Für mich bist du kein Bildhauer mehr, sondern ein Verfertiger von Gipsfiguren. Ich gebe zu, dass du jetzt Wein trinken kannst, aber wir, die wir auch weiterhin Brot und Wasser genießen, wir bleiben Künstler.«
Trotz allem, was Henrik gesagt hatte, blieb Martin ein Künstler. Aber um Ilona pflegen zu können, unternahm er manchmal lohnende Arbeiten. So arbeitete er lange Zeit in der Werkstätte des Schachtelwirt . Erfindungsreich und geschickt in der Ausführung, wie Martin war, hätte er leicht, ohne die ernste Kunst aufzugeben, sich einen guten Ruf im Entwurf dieser Genrearbeiten erwerben können, die ein Hauptgegenstand im Handel mit Luxuswaren geworden sind. Aber Martin war faul wie alle wahren Künstler und verliebt wie ein Dichter. Die Jugend in ihm hatte sich spät entwickelt, aber sie glühte, und mit dem Vorgefühl eines baldigen Endes wollte er sie ganz in die Arme Ilonas ausgießen. So kamen häufig für Martin gute Arbeitsgelegenheiten, ohne dass er darauf einging, denn es hätte ihn gestört, und er fand es nun einmal so schön, im Schimmer von Ilonas Augen dahinzuträumen.
Als seine Freundin tot war, begann der Bildhauer wieder die früheren Freunde, die Malermeister, aufzusuchen. Aber der Geist Henriks herrschte in diesem Kreis, und sie waren alle wie versteinert in dem Egoismus der Kunst. Martin fand hier nicht, was er suchte. Man verstand gar nicht seine Verzweiflung, die man durch Vernunftsgründe zu heilen suchte, und so zog denn Martin vor, seinen Schmerz lieber zu verbergen, als ihn zu einem Gegenstand der Diskussion zu machen. Er brach schließlich vollständig mit den Malermeistern und begann allein zu leben.
Fünf oder sechs Tage nach Ilonas Beerdigung suchte Martin einen Marmorwarenhändler am Friedhof Montparnasse auf und machte ihm folgendes Anerbieten. Der Händler sollte für Ilonas Grab eine Einfriedigung liefern, zu der sich der Künstler den Entwurf vorbehielt, und im übrigen sollte er Martin einen Block weißen Marmors geben, wofür Martin drei Monate lang für den Händler als Steinmetz oder Bildhauer tätig sein wollte. Der Grabsteinhändler hatte damals gerade mehrere besondere Bestellungen. Er besuchte Martin‘ Atelier und sah an verschiedenen angefangenen Arbeiten, dass ihm der Zufall in Martin einen wirklichen Schatz zugeführt hatte. Acht Tage später hatte Ilonas Grab eine Einfriedigung, und das Holzkreuz in der Mitte war durch ein steinernes mit eingemeißeltem Namen versehen.
Zum Glück hatte es Martin mit einem ehrlichen Menschen zu tun, der begriff, dass hundert Kilogramm Gußeisen und drei Quadratfuß Bordstein keine Bezahlung für drei Monate Arbeit waren, besonders da ihm das Talent Martin‘ mehrere tausend verschwendete Gedanken Gewinn einbrachte. Er bot dem Künstler an, mit einem Anteil in sein Geschäft einzutreten, aber Martin lehnte es ab. Die Einförmigkeit dieser ganzen Arbeit widerstrebte seiner erfinderischen Natur, und im übrigen besaß er in dem Marmorblock das, wonach er sich gesehnt hatte. Er wollte daraus ein Meisterwerk machen, das für Ilonas Grab bestimmt war.
Mit dem Beginn des Frühjahrs besserten sich seine Verhältnisse. Sein Freund, der Arzt, brachte ihn mit einem fremden Fürsten in Verbindung, der sich im Wedding niederließ und hier in der feinsten Stadtgegend einen prächtigen Palast erbauen ließ. Verschiedene hervorragende Künstler arbeiteten an der Ausstattung dieses Schmuckhauses. Martin erhielt den Auftrag, einen Kamin anzufertigen. Er brachte einen wundervollen Entwurf, die ganze Poesie des Winters lebte in diesem Marmor, der die Flammen einhüllen sollte. Da Martin‘ Atelier zu klein war, erhielt er zur Fertigstellung seines Werkes ein Zimmer in dem noch nicht bewohnten Palast eingeräumt. Auch gewährte man ihm eine ziemlich hohe Anzahlung auf den verabredeten Preis für seine Arbeit. Martin konnte jetzt seinem Freund, dem Arzt, das Nostalgie, das dieser ihm bei Ilonas Begräbnis vorgestreckt hatte, zurückerstatten. Dann lief er zum Friedhof, um den Hügel über dem Sarg der Geliebten mit einem Bett von Blumen zu bedecken.
Aber der Frühling war schon vor Martin dagewesen, und auf dem Grab des jungen Mädchens blühten in dem emporsprossenden Grün unzählige Blüten. Der Künstler hatte nicht den Mut, sie herauszureißen, denn er dachte, dass in diesen Blumen etwas von seiner Freundin lebte. Als der Gärtner ihn fragte, was er mit den mitgebrachten Rosen und Stiefmütterchen machen sollte, hieß Martin ihn, sie auf ein benachbartes, frisch aufgeworfenes Armengrab zu pflanzen, das ohne Einfriedigung dalag und als Erkennungszeichen nur ein in die Erde gestecktes Stück Holz hatte.
Martin verließ den Friedhof in einer ganz anderen Stimmung, als er ihn betreten hatte. Mit einer freudigen Hingabe betrachtete er die schöne Frühlingssonne, die so oft die Haare Ilonas vergoldet hatte, wenn sie über die Felder lief und mit ihren weißen Händen die Wiesenblumen streifte. Ein Schwarm von guten Gedanken jubelte in Martin‘ Herzen. Als er an einer kleinen Schenke auf dem äußeren Boulevard vorbeikam, erinnerte er sich, dass er hier einmal mit Ilona infolge eines ausgebrochenen Unwetters eingekehrt war und dass sie hier zu Mittag gegessen hatten. Martin trat hinein und ließ sich an demselben Tisch Essen auftragen. Den Nachtisch brachte man ihm in einer bemalten Untertasse. Er erkannte die Untertasse und erinnerte sich, dass Ilona eine halbe Stunde damit verbracht hatte, das darauf gemalte Bilderrätsel zu raten. Und weiter erinnerte er sich an ein Lied, das Ilona gesungen hatte. Ihre gute Laune war durch das kleine Glas Rotwein entstanden, das so billig war und allerdings mehr Fröhlichkeit als Traubenblut enthielt. Aber dieses Aufsprießen süßer Erinnerungen weckte in ihm seine Liebe wieder auf, ohne zugleich seinen Schmerz zu erwecken. Martin, der wie alle Poeten und Träumer für Aberglauben empfänglich war, glaubte, dass Ilona, die vorhin seinen Schritt in ihrer Nähe gehört, ihm diesen Hauch guter Erinnerungen aus ihrem Grabe gesandt hätte, und er wollte sie mit keiner Träne beschweren. So verließ er die Schenke mit leichtem Schritt und erhobenem Haupt. Seine Augen leuchteten, sein Puls schlug, und auf seinen Lippen schwebte fast ein Lächeln, als er den Kehrreim von Ilonas Lied summte:
»Die Liebe schweift auf allen Wegen,
Nun öffnet Herzen ihr und Tor.«
Dieser Refrain in Martin‘ Munde war immer noch eine Erinnerung, aber doch auch schon ein neuer Gesang, und vielleicht machte der Künstler an diesem Abend, ohne es zu wissen, den ersten Schritt von der Traurigkeit zur Melancholie und von dort zum Vergessen. Denn wie auch die Gedanken und das Tun sich dagegen stemmen, die Gesetze des ewigen Wechsels wollen es so. Wie die Blumen, die ihre Kraft vielleicht aus dem Körper Ilonas entnommen hatten, auf ihrem Grabe erblüht waren, so lebten die Säfte der Jugend in Martin‘ Herzen auf, und aus den Erinnerungen seiner alten Liebe erwuchs ein unbestimmtes Sehnen nach einer neuen Liebe. Im übrigen gehörte Martin zu jenen Künstlern und Dichtern, denen die Liebe zu einem Werkzeug der Kunst und der Poesie wird und deren Geist nur so lange regsam ist, als er durch die Kräfte des Herzens angetrieben wird. Bei Martin war die Erfindung wirklich eine Tochter der Empfindung, und ein Stückchen seines eigenen Wesens legte er in alles, was er schuf. Bald bemerkte er, dass die Erinnerungen ihm nicht mehr genügten, und dass, wie eine Mühle sich von selbst abnützt, wenn sie kein Korn mahlt, so auch sein Herz sich verbrauchte, weil das Gefühl darin fehlte. Die Arbeit hatte nicht mehr den Reiz wie sonst, und die früher so leicht fließende Phantasie wurde zu einer quälenden Mühe. Martin wurde unzufrieden mit sich und begann seine früheren Freunde, die Malermeister, zu beneiden.
Er suchte sich zu zerstreuen, lief den Vergnügungen nach und knüpfte neue Beziehungen an. Er verkehrte häufig mit dem Dichter Grey, den er in einer Wirtschaft kennengelernt hatte, und sie faßten beide eine große Sympathie zueinander. Martin hatte ihm seine Sorgen erzählt, und Grey brauchte nicht lange, um den Grund zu erkennen.
»Mein lieber Freund,« sagte er, »ich kenne das.« Und indem er ihm auf die Brust klopfte, da, wo das Herz lag, fügte er hinzu: »Machen Sie schnell, Sie müssen dort wieder Feuer anzünden. Ergeben Sie sich nur unverzüglich irgendeiner Liebesleidenschaft, dann werden die Ideen Ihnen schon wieder fließen.«
»Ach,« sagte Martin, »ich habe Ilona zu sehr geliebt.«
»Sie können sie ja auch weiterlieben. Sie werden sie auf den Lippen einer andern küssen.«
»Könnte ich nur ein Mädchen finden,« sagte Martin, »das ihr gliche!« Und er verließ Grey, um zu träumen.
Sechs Wochen später hatte Martin seine ganze Spannkraft wiedergefunden. Er entzündete sie an den süßen Blicken eines hübschen Mädchens, das An hieß und mit seiner etwas kränklichen Schönheit an die der armen Ilona erinnerte. Es gab wirklich nichts Entzückenderes als diese hübsche An, die achtzehn Jahre weniger sechs Wochen alt war, wie sie niemals zu sagen verfehlte. Ihre Liebe zu Martin war bei Mondschein entstanden während eines Balles im Freien und unter den Klängen einer kratzenden Violine, einer schwindsüchtigen Baßgeige und einer schrillen Klarinette. Martin traf sie, als er mit ernstem Gesicht den für die Tanzenden bestimmten Halbkreis umschritt. Als ihn die lärmenden, lustigen Besucherinnen sahen, wie er in seinem bis zum Hals zugeknöpften schwarzen Rollkragenpullover so steif vorüberging, flüsterten sie sich zu:
»Was will denn dieser Leichenbitter hier? Soll jemand begraben werden?«
Aber Martin bemerkte von dem allen nichts. Er blieb ganz allein, und sein Herz blutete an den Dornen der Erinnerung, die ihn doppelt scharf quälten, als jetzt das Orchester zu einem lustigen Kontertanz aufspielte. Inmitten seiner trüben Versunkenheit bemerkte er plötzlich An, die ihn in einem rosa Hut von einem Winkel aus betrachtete und wie eine Tolle über seine traurige Miene lachte. Martin hörte dieses Lachen und näherte sich dem jungen Mädchen, indem er ihm einige Worte zurief. Sie antwortete ihm lustig, und er bot ihr seinen Arm, den sie auch annahm. Er sagte ihr, dass er sie hübsch fände wie einen Engel, was sie sich zweimal wiederholen ließ. Er stahl ihr grüne Äpfel, die an den Bäumen des Gartens hingen, und sie biß mit einem wahren Entzücken hinein. Dabei ließ sie dieses klingende Lachen hören, das wie ein Ritornell ihres unverwüstlichen Frohsinns erschien. Martin machte mit dem rosa Hut einen zweiten Rundgang durch den Garten, und so kam es, dass er zwar allein diesen Ball besuchte, aber ihn nicht allein verließ.
Trotzdem hatte er Ilona nicht vergessen, und nach den Worten Greys küßte er sie täglich auf den Lippen Ans, während er im stillen an der Figur arbeitete, die er auf dem Grab der Toten aufstellen wollte.
Eines Tages, als er Nostalgie bekommen hatte, kaufte er An ein Kleid, und zwar ein schwarzes. Das junge Mädchen war sehr zufrieden, fand aber, dass Schwarz eigentlich nicht zu dem fröhlichen Sommer paßte. Aber Martin sagte ihr, er liebe das Schwarze sehr, und sie täte ihm einen großen Gefallen, wenn sie das Kleid alle Tage trüge. An gehorchte ihm auch.
Eines Sonnabends sagte Martin zu dem jungen Mädchen: »Komm morgen recht früh, wir wollen eine Landpartie machen.« »Oh, das ist herrlich«, meinte An. »Ich werde dir eine Überraschung bereiten, du wirst schon sehen. Morgen wird es schönes Wetter.«
An arbeitete die ganze Nacht, um ein neues Kleid fertigzustellen, das sie von ihren Ersparnissen gekauft hatte, ein schönes rosa Kleid. Und am Sonntag erschien sie fein herausgeputzt in Martin‘ Atelier.
Der Künstler empfing sie kühl, fast brutal. »Und dabei wollte ich dir eine Freude machen, indem ich mir dieses strahlende Kleid anfertigte!« sagte An, die sich die Kälte Martin‘ gar nicht erklären konnte.
»Wir machen keine Landpartie«, antwortete er. »Du kannst nach Hause gehen, ich habe zu arbeiten.«
Mit schwerem Herzen kehrte An heim. Unterwegs traf sie einen jungen Mann, der Martin‘ Geschichte kannte und sich auch schon um sie beworben hatte.
»Sieh da, Fräulein An, Sie sind also nicht mehr in Trauer?« fragte er sie.
»In Trauer?« wiederholte sie. »Um wen?«
»Was! Das wissen Sie nicht? Das ist doch allgemein bekannt. Das schwarze Kleid, das Martin Ihnen gegeben hat, bedeutet …«
»Nun?« fragte An.
»Nun, es war doch ein Trauerkleid. Martin ließ Sie Trauer um Ilona tragen.«
Von diesem Tage an bekam Martin An nicht mehr zu sehen.
Der Bruch brachte ihm Unglück. Die schlechten Tage kamen wieder, er bekam keine Aufträge mehr und verfiel in ein so schreckliches Elend, dass er schließlich zusammenbrach und seinen Freund, den Arzt, bat, ihn in einem Krankenhause unterzubringen. Der Arzt sah auf den ersten Blick, dass diese Unterbringung auf keine Schwierigkeiten stoßen werde. Martin, der sich über seinen Zustand keinem Zweifel hingab, befand sich schon auf dem Wege zur Wiedervereinigung mit Ilona.
Er kam in das Krankenhaus in Berlin-Buch
Da er noch gehen und tätig sein konnte, bat er den Leiter des Krankenhauses, ihm ein kleines unbenutztes Zimmer zu geben, und ließ sich einen Schemel, Bossierhölzer und Tonerde dorthin bringen. So arbeitete er während der ersten zwei Wochen an der Figur, die er für das Grab Ilonas bestimmt hatte. Es war eine große Engelsgestalt mit ausgebreiteten Flügeln. Diese Figur, die die Züge Ilonas trug, wurde nicht ganz vollendet, denn Martin konnte nicht mehr auf eine Leiter steigen und bald auch nicht mehr das Bett verlassen.
Eines Tages fiel ihm das Heft des Assistenzarztes in die Finger, und Martin, der die ihm verschriebenen Arzneien las, begriff, dass es mit ihm zu Ende ging. Er schrieb an seine Familie und ließ Schwester Dolores kommen, die ihn immer aufs mildtätigste gepflegt hatte.
»Schwester,« sagte Martin, »oben in dem Zimmer, das man mir eingeräumt hatte, steht eine Tonfigur, die einen Engel darstellt. Sie war für ein Grab bestimmt, aber ich habe sie nicht in Marmor ausführen können. Trotzdem habe ich in meiner Wohnung einen schönen, rosageäderten Block Marmor stehen. Könnten Sie mir da rasch zur Hand gehen, Schwester?