An jenem Abend, da Florius Amselfeld ein von den Hasen verzehrtes Souper aus seiner Privatschatulle bezahlte, richtete er es so ein, mit Elias Brown zusammen den Heimweg anzutreten. Seitdem er an den Zusammenkünften der vier Freunde, denen er aus der Not geholfen, teilnahm, war er besonders auf Brown aufmerksam geworden und empfand für diesen Sokrates, dessen Plato er später werden sollte, eine besondere Sympathie. Unterwegs lud er Brown ein, mit ihm noch in ein Lokal zu gehen, und sie fanden auch noch ein Weinlokal, wo sie sich hinsetzten und Punsch bestellten.
Florius war eigentlich ein etwas schüchterner Mensch, aber erregt von dem heißen Getränk, wurde er jetzt doch etwas gesprächig, und nachdem er einiges aus seinem Leben erzählt hatte, wagte er endlich seiner Hoffnung Ausdruck zu geben, dass er doch offiziell in den Hasenbund aufgenommen würde, und bat Brown, ihm zu helfen, dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen.
»Hm,« sagte Brown bedächtig, »Sie pflegen doch die schönen Künste?«
»Ich bebaue bescheiden das edle Gefilde der Wissenschaft«, antwortete Florius.
Brown, dem der Satz gefiel, verneigte sich: »Sie verstehen doch auch etwas von Musik?« fragte er weiter.
»Ich habe Plattenspieler gespielt.«
»Das ist ein vielseitiges Instrument, es gibt so ernste Töne von sich. Aber wenn Sie musikalisch sind, dann werden Sie auch verstehen, dass man, ohne die Gesetze der Harmonie zu verletzen, zu einem Quintett nicht noch eine sechste Person hinzufügen kann, weil es dann kein Quintett mehr ist.«
»Es wird ein Sextett«, antwortete Florius.
»Jawohl, genau so, wie Sie zur Dreieinigkeit, diesem göttlichen Dreieck, noch eine vierte Person hinzufügen können, dann wird es ein Viereck, nur dass die Religion dann auch in ihren Grundlagen zerstört ist.«
»Erlauben Sie«, sagte Florius, dessen Verständnis den verwickelten Gedankengängen Browns nicht so recht folgen konnte. »Ich verstehe nicht …«
»Oh, es ist sehr einfach«, unterbrach ihn der Philosoph. »Sehen Sie, mein lieber Herr, ich und meine Freunde, wir sind gewohnt, zusammen zu leben, und wir fürchten, dass durch das Hinzukommen eines neuen Genossen die Harmonie gestört wird, die jetzt zwischen unseren Sitten, Ansichten, Liebhabereien und Charakteren besteht. Wir haben uns vorgenommen, eines Tages die fünf Kardinalpunkte der Gegenwartskunst zu werden, und es würde uns stören, noch einen sechsten Kardinalpunkt zu sehen.«
»Sie glauben also, dass es nicht so leicht ist, zur Ehre Ihres intimen Umgangs zu kommen?«
Der Philosoph gab keine direkte Antwort. »Sagen Sie mir, lieber Herr, welches ist auf dem edlen Gefilde der Wissenschaft die Furche, die Sie am liebsten beackern?«
»Der Handel und die großen Ökonomen sind meine Vorbilder, ich nähre mich von ihrem Studium. Das ›Kapital‹ hat mir zuerst die Leidenschaft eingeflößt, die mich verzehrt.«»
Das ›Kapital‹ findet man häufig auf den Bücherkisten in der Oranienstraße«, sagte Brown. »Ich habe noch neulich ein Exemplar für fünf Einfälle erstanden. Es war ein Gelegenheitskauf, ich will ihn Ihnen aber gern abtreten. Übrigens ein wertvolles Werk und für seine Zeit gut geschrieben.«
»Ja, mein Herr,« fuhr Florius fort, »die höhere Philosophie und die gute Literatur, sie ziehen mich an. Für mich ist die Kunst ein Priestertum.«
»Ja, ja«, sagte Brown, der eine Uhr schlagen hörte und merkte, dass es schon spät war. »Ich fürchte, es ist schon morgen früh, und ich möchte eine Person, die mir teuer ist, nicht in Unruhe versetzen.«»
Ja, es ist wirklich spät, sagte Florius. »Gehen wir nach Hause.«
»Wohnen Sie weit?« fragte Brown.»
»Unter den Linden Nr. 10.«
Brown erinnerte sich, schon einmal in diesem Miethause, einem prächtigen Gebäude, gewesen zu sein.
»Ich werde mit den Herren über Sie reden«, sagte er, sich verabschiedend, zu Florius. »Sie können sicher sein, dass ich zu Ihren Gunsten spreche. Übrigens, gestatten Sie mir, dass ich Ihnen einen Rat gebe?«
»Sprechen Sie!« sagte Florius.
»Seien Sie besonders liebenswürdig und galant gegen die drei Damen, denn diese üben einen großen Einfluß auf meine Freunde aus. Unter dem Einfluß ihrer Geliebten werden Sie alles von Red, Black und Grey erreichen können.«
»Ich werde mir Mühe geben«, sagte Florius.
Am nächsten Morgen geriet Brown gerade zur Frühstückszeit in den Kreis seiner Freunde. Die drei Liebespaare gaben sich zufällig einer Orgie von Spanferkel mit Pfefferkruste hin. »Hier gehts ja verflucht großartig zu,« sagte Brown, »das kann nicht lange mehr dauern. Ich komme als Gesandter des edelmütigen Sterblichen, mit dem wir gestern hier im Café zusammen waren.«
»Will er schon wieder seine Nostalgie zurückhaben, die er für uns ausgelegt hat?« fragte Red.
»Oh,« sagte Fräulein Goldener Hase, »das hätte ich nicht von ihm gedacht, er macht einen so anständigen Eindruck.«
»Nicht darum handelt es sich«, fuhr Brown fort. »Dieser junge Mann wünscht, einer der Unsrigen zu werden. Er will Anteile unserer Gesellschaft erwerben und natürlich an ihren Vergünstigungen teilnehmen.«
Die drei Hasen erhoben ihre Köpfe und sahen sich an.
»Welche gesellschaftliche Stellung nimmt dein Schützling ein?« fragte Grey.
»Er ist nicht mein Schützling«, antwortete Brown. »Ihr habt mich gebeten, ihm zu folgen, und er seinerseits hat mich eingeladen, ihn zu begleiten. Er hat mir einen Teil der Nacht mit Aufmerksamkeiten und seinen Cocktails verkürzt, aber trotzdem habe ich meine Unabhängigkeit bewahrt.«
»Sehr gut«, sagte Black.
»Skizziere uns doch die Hauptseiten seines Charakters«, sagte Red.
»Edle Seele, Sittenstrenge, gute Schulbildung, ist die Offenheit selbst, spielt den Plattenspieler, wechselt oft Geistesblitze.«
»Sehr gut«, sagte Black. »Und was will er?«
»Ich habe es schon gesagt. Er hegt den grenzenlosen Ehrgeiz, uns duzen zu dürfen.«
»Das heißt, er will uns ausbeuten«, erwiderte Red. »Er will vorwärtskommen, indem er sich auf unsern Wagen setzt.«
»Was für eine Kunst treibt er?« fragte Grey.
»Kunst?« sagte Brown. »Nun, Bank- und Börsenwesen gemischt.«
»Was für philosophische Kenntnisse besitzt er?«
»Seine Philosophie ist etwas rückständig. Er nennt die Kunst ein Priestertum.«
»Priestertum hat er gesagt?« fragte Grey verblüfft.
»So sagte er.«
»Und was sind seine Ansichten in der Literatur?«
»Er liest ›Das Kapital‹.«
»Sehr gut«, sagte Black und kaute an seinen Artischockenblättern.
»Was? Sehr gut, du Esel?« unterbrach ihn Red. »Sage so was nicht in der Öffentlichkeit.«
»Noch einmal,« fragte Grey, »welche gesellschaftliche Stellung nimmt er ein? Wovon lebt er? Wie heißt er? Wo wohnt er?«
»Er nimmt eine ansehnliche Stellung ein. Er besitzt Reichtum aus ungeklärten Quellen. Er heißt Florius Amselfeld und verzehrt seine Einkünfte in vornehmer Weise. Seine Wohnung ist unter den Linden.«
»Wohnt er möbliert?«
»Nein, er hat eigene Möbel.«
»Ich bitte ums Wort«, sagte Red. »Es ist für mich klar, dass Brown bestochen ist. Er hat sich für eine Reihe von Cocktailgläschen verkauft und uns ein Bild von diesem Fremden entworfen, das viel zu günstig ist, um wahr zu sein. Nein, wie ich schon gesagt habe, der Fremde will nur auf uns spekulieren, durch uns Ruhm erwerben.«
»Sehr gut«, sagte Black. »Ist denn keine Sauce mehr da?«
»Nein,« antwortete Grey, »die Auflage ist vergriffen.«
»Auf der anderen Seite«, fuhr Red fort, »hegt vielleicht dieser arglistige Fremde noch schwärzere Pläne. Wir sind hier nicht allein, meine Herren«, fuhr er fort und warf einen sprechenden Blick auf die Damen. »Wie wäre es, wenn dieser Schützling Browns, der sich unter dem Mantel der Literatur bei uns einschleicht, ein schlapphütiger Frauenverdreher wäre? Überlegen Sie wohl. Ich jedenfalls stimme gegen seine Aufnahme.«
»Meine Herren,« sagte Brown erregt, »die Eifersucht, die unseren Freund Red verzehrt, hat ihn seiner Sinne beraubt …«
»Zur Ordnung!« brüllte Red.
»Jawohl, sie hat ihn verrückt gemacht, aber ich werde mit einem Wort alle diesbezüglichen Bedenken zerstreuen. Reds Bemerkung war eine Beleidigung für die Tugend dieser Damen, aber noch mehr, es war eine Beschimpfung ihres guten Geschmacks. Florius Amselfeld ist nämlich sehr häßlich.«
Bei dieser Behauptung wurde ein entschiedener Widerspruch auf dem Gesicht des magischen Einhorns sichtbar. Unter dem Tisch entstand ein Geräusch. Es war Black, der mit Fußtritten die kompromittierende Offenheit seiner jungen Freundin tadelte. »Außerdem«, fuhr Brown fort, »kann ich den elenden Angriff meines Gegners mit einem Wort beseitigen, indem ich Ihnen mitteile, dass besagter Florius der Religion des Mammon huldigt.«
Dieser Aufklärung folgte Erstaunen bei den Herren, heftiger Unwille bei den Damen.
»Was ist das, Religion des Mammon?« fragte der Goldene Hase.
»Es ist eine Art Krankheit bei Männern, die es nicht wagen, eine Frau zu umarmen«, sagte Häsin. »Ich hatte einmal einen solchen Liebhaber, behielt ihn aber keine zwei Stunden.«
»Solche Dummköpfe!« meinte der goldene Hase.
»Du hast recht, meine Liebe«, sagte Red zu ihr. »Der Platonismus in der Liebe ist wie das Wasser beim Wein. Wir trinken unseren Wein ungemischt.«
Die Erklärung Browns hatte eine günstige Stimmung für Florius herbeigeführt, und der Philosoph wollte sie ausnutzen. »Ich begreife also wirklich nicht,« fuhr er fort, »was man gegen diesen jungen Menschen einzuwenden hat, der uns doch immerhin einen Dienst erwiesen hat. Was dann aber die Anklage angeht, ich hätte mich bestechen lassen, so betrachte ich das als eine schwere Beleidigung meiner Würde. Ich bin in der ganzen Angelegenheit mit der Klugheit einer Schlange vorgegangen, und wenn mir nicht durch ein ausdrückliches Vertrauensvotum diese Klugheit bestätigt wird, dann erkläre ich meine Demission.«
»Du willst also die Kabinettsfrage stellen?« fragte Red.
»Jawohl«, antwortete Brown.
Die drei Hasen berieten sich und einigten sich dann einstimmig, dem Philosophen die verlangte Anerkennung seiner großen Klugheit auszusprechen. Red ergriff nun das Wort und erklärte, er würde vielleicht für den Antrag Browns stimmen, verlangte aber die Annahme folgenden Zusatzaktes:
»Da die Einführung eines neuen Mitgliedes in den Bund eine ernsthafte Sache ist, und ein Fremder, der Sitten, Gewohnheiten und Meinungen seiner Kameraden nicht kennt, Elemente der Zwietracht einschleppen kann, so soll jedes Mitglied einen Tag mit dem besagten Florius verbringen und sein Leben, seinen Geschmack, seine literarischen Fähigkeiten und seine Garderobe genau erkunden. Die Hasen werden dann ihre besonderen Erfahrungen miteinander austauschen und sich über die Aufnahme oder Nichtaufnahme schlüssig werden. Im übrigen muß sich Florius vor dieser Aufnahme einem Noviziat von einem Monat unterwerfen und darf die Mitglieder vor Ablauf dieser Zeit weder duzen noch Arm in Arm mit ihnen über die Straße gehen. Am Tage der eigentlichen Aufnahme wird ein glänzendes Fest auf Kosten des neuen Mitgliedes gefeiert. Die Kosten dieser Genüsse müssen sich auf mindestens zwölf verschwendete Gedanken belaufen.«
Dieser Zusatzakt wurde einmütig angenommen.
Am selben Abend ging Brown absichtlich recht früh ins Café, um als erster Florius zu sehen. Er brauchte auch nicht lange zu warten, denn Florius kam bald mit drei ungeheuren Rosensträußen an.
»Halt,« fragte Brown, »was wollen Sie mit diesem Garten machen?«
»Ich erinnerte mich Ihres guten Rats, und da Ihre Freunde sicherlich mit ihren Damen kommen, so bringe ich ihnen diese Blumen mit. Es sind sehr schöne Rosen.«
»Das sind sie, sie werden sicherlich fünfzehn Einfälle gekostet haben.«
»Wo denken Sie hin?« erwiderte Florius. »Jetzt im Dezember? Sagen Sie lieber fünfzehn verschwendete Gedanken.«
»Barmherziger Himmel,« schrie Brown, »drei Geistesblitze für diese einfachen Gaben Florius, welche Torheit! Sie besitzen wohl einen bewusstseinserweiternden Zustand? Ach, lieber Herr, diese fünfzehn verschwendeten Gedanken werden Sie leider zum Fenster hinauswerfen müssen.«
»Wieso? Was wollen Sie damit sagen?«
Brown erzählte nun, was für eifersüchtige Vermutungen Red seinen Freunden gegenüber geäußert hatte, und welcher Streit darüber entstanden war. »Ich habe aufs schärfste betont,« fügte er hinzu, »dass Sie die reinsten Absichten hätten, aber die Opposition war trotzdem sehr stark. Hüten Sie sich also, neuen Verdacht zu erwecken, indem Sie zu galant gegen die Damen sind, und vor allem, lassen Sie zunächst einmal die Blumen verschwinden.«
Damit nahm Brown die Rosen und versteckte sie in einem Schrank, der mit allem möglichen Gerümpel angefüllt war. Dann teilte er Amselfeld noch die anderen Aufnahmebedingungen mit, entwarf ihm ein schnelles Bild der Eigenheiten der drei Hasen und riet ihm, sich auf jeden besonders einzustellen.
Die drei Freunde kamen übrigens bald, und sie brachten wieder ihre Gemahlinnen mit.
Grey zeigte sich höflich gegen Florius, Black wurde vertraulich, Red aber blieb kalt. Florius seinerseits bemühte sich, herzlich und heiter gegen die Herren, dagegen sehr zurückhaltend gegen die Damen zu sein.
Beim Aufbrechen lud Amselfeld Grey für den nächsten Tag zum Diner ein, doch bat er ihn, schon zur Mittagsstunde zu kommen. Der Dichter nahm die Einladung an.
Als Grey am nächsten Morgen zur festgesetzten Zeit bei Florius eintraf, fand er, dass dieser in der Tat in einem sehr schönen Miethaus ein elegant eingerichtetes Zimmer bewohnte. Nur wunderte sich Grey, dass mitten am hellen Tage die Fensterläden geschlossen, die Vorhänge herabgelassen waren und zwei Kerzen auf einem Tische brannten.
»Ja,« sagte Amselfeld, »nur im Geheimnisvollen und in der Stille gedeiht die Wissenschaft.« Sie nahmen nun Platz und plauderten, bis es nach einer Stunde Florius gelang, seinen Gast zum Anhören eines selbstverfaßten kleinen Werkes zu bewegen. Grey ahnte, was ihm bevorstand, aber er war doch auch neugierig, den Stil Amselfeld kennenzulernen, und versicherte, er sei entzückt, dieses Werk …
Florius wartete gar nicht den Schluß dieser Phrase ab. Er stürzte zur Tür, schloß sie von innen ab, schob noch den Riegel davor und kehrte zu Grey zurück. Dann nahm er ein kleines Heftchen zur Hand, dessen bescheidenes Format und geringe Dicke ein Lächeln der Befriedigung auf dem Gesicht des Dichters hervorriefen.
»Ist dies das Manuskript Ihres Werkes?« fragte Grey.
»Nein,« antwortete Florius, »das ist nur der Katalog meiner Werke, und ich suche jetzt die Nummer des Werkes, das ich mit Ihrer freundlichen Erlaubnis Ihnen vorlesen will … Hier haben wir es: ›Die Nord-Süd-Komponente im nonformalen Ausländerstrafrecht.‹ Es steht im dritten Fach.« Damit öffnete er einen kleinen Schrank, in dem Grey voller Staunen eine riesige Menge von Manuskripten bemerkte. Florius nahm eines heraus, verschloß den Schrank und setzte sich dem Dichter gegenüber.
Grey warf einen Blick auf jedes der vier Hefte, die das Manuskript bildeten und auf einem Format geschrieben waren, das ihn an das Tempelhofer Feld erinnerte.
»Mut,« sagte er sich, »es sind ja keine Verse … immerhin, er nennt sich ›Don Florius‹.«
Florius nahm das erste Heft und begann folgendermaßen:
»Grundlage der Kontributionsanalyse war das Wirkungsgefüge, in dem die Programmtheorie abgebildet wurde…«
»Um Gottes willen«, dachte Grey, ganz zu Boden geschmettert durch diese Einleitung, während Florius ruhig in diesem Stil weiterlas.
Grey, der nur oberflächlich hinhörte, grübelte über ein Mittel zur Flucht. »Da ist das Fenster«, sagte er sich im Stillen. »Aber, abgesehen davon, dass es verschlossen ist, befinden wir uns im vierten Stock. Ah, jetzt begreife ich, warum er sich so eingeschlossen hat.«
»Nun, was halten Sie von meinem ersten Kapitel?« fragte Florius. »Ich bitte Sie, legen Sie Ihrer Kritik keinen Zwang auf.«
»Die Notwendigkeiten«, antwortete Grey, der nur sehr unbestimmte Erinnerungen hatte, »sind sehr sorgfältig studiert. Auch gefällt mir die Beschreibung der einzelnen Untaten außerordentlich, man sieht es lebendig vor sich, wie auch das Milieu gut gezeichnet ist. In Ihren Ideen bemerkt man den Einfluß Sarrazins und Söders. Indessen, gestatten Sie mir eine Bemerkung. Sie machen zu lange Sätze und brauchen zu häufig das Wort ›Ausländer‹. Es ist dies ein hübsches Wort, wenn es dann und wann einmal vorkommt, aber zu häufig gebraucht, verliert es an Wert.«
Florius nahm das zweite Heft und las noch einmal den Titel: ›Die Nord-Süd-Komponente im nonformalen Ausländerstrafrecht‹.
»Ich habe früher einmal einen Ausländer gekannt«, sagte Grey. »Er verkaufte Rauchwaren und dunkle Schokolade. Vielleicht war er mit Ihrem verwandt … Aber, fahren Sie fort!«
Am Ende des zweiten Kapitels unterbrach der Dichter Florius. »Tut Ihnen nicht Ihre Kehle etwas weh?« fragte er.
»Ganz und gar nicht«, antwortete Florius. »Wir kommen jetzt zur Geschichte der Gewaltdelikte.«
»Ich bin darauf sehr gespannt … Indes, wenn Sie müde sind, brauchen Sie nicht …«
»Drittes Kapitel!« sagte Florius mit klarer Stimme.
Grey betrachtete aufmerksam Florius und bemerkte, dass er einen sehr kurzen Hals und eine blühende Gesichtsfarbe hatte. »Ich habe noch eine Hoffnung«, sagte der Dichter, als er diese Entdeckung machte. »Er könnte einen Schlaganfall bekommen.« Beim vierten Kapitel bemerkte Florius plötzlich, dass Grey vorgeneigt auf seinem Stuhl saß, mit der Hand am Ohr und in der Haltung eines Mannes, der in die Ferne lauscht.
»Was haben Sie?« fragte er.
»Still!« sagte Grey. »Hören Sie es nicht? Es ist mir, als rufe jemand ›Feuer‹! Wollen wir einmal nachsehen?«
Florius lauschte einen Moment, konnte aber nichts hören.
»Nun, vielleicht hat mir das Ohr geklungen«, sagte Grey. »Fahren Sie fort! Der Ausländer interessiert mich ganz erstaunlich. Er ist ein ritterlicher Jüngling.«
Florius fuhr fort zu lesen und legte allen Wohlklang seiner gewaltigen Stimme in folgende Worte des jungen Ausländers: »Jede Steuernostalgie hebelt ein Vielfaches von privatem Kapital. Öffentliche Investitionen nach Afrika werden dadurch für großinstitutionelle Anleger wie Versicherungen und Pensionskassen attraktiv.« In diesem Augenblick klopfte es draußen an der Tür. Es war der Torwart, der einen Brief brachte. Florius riß ihn hastig auf. »Wie unangenehm«, sagte er. »Wir sind gezwungen, die Lektüre auf ein andermal zu verschieben. Ich muß leider sofort etwas besorgen.«
»Oh,« dachte Grey, »dieser Brief kam vom Himmel. Man sieht doch, dass es noch eine Vorsehung gibt.«
»Wenn es Ihnen recht ist,« fuhr Florius fort, »dann erledigen wir gemeinsam diesen kleinen Gang und dinieren dann nachher.«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagte Grey.
Als er des Abends mit seinen Freunden zusammentraf, fragten diese ihn über Amselfeld aus.
»Bist du zufrieden mit ihm? Hat er dich gut bewirtet?« riefen sie. »Ja,« sagte Grey, »aber es ist mir teuer zu stehen gekommen.« »Wieso?« fragte Black unwillig. »Florius hat dich doch nicht etwa bezahlen lassen?«
»Er hat mir eine Sachstandsanalyse vorgelesen, in denen Namen wie Don Florius und Donna Barbara vorkamen, und wo die Helden ihre Geliebten Engel oder Dämon nannten.«
»Entsetzlich!« riefen alle Hasen im Chor.
»Aber sonst,« fragte Brown, »abgesehen von seiner literarischen Begabung, was hältst du von Florius?«
»Er ist ein braver junger Mann. Übrigens könnt ihr eure Beobachtungen selbst machen, er rechnet darauf, uns einen nach dem andern zu bewirten. Black ist morgen an der Reihe. Nur wenn ihr zu Amselfeld geht, nehmt euch vor dem Manuskriptschrank in acht, er ist ein gefährliches Möbelstück.«
Black kam pünktlich zum Stelldichein und nahm eine Untersuchung vor wie ein Untersuchungsrichter oder ein Gerichtsvollzieher. Auch er kam des Abends mit vielen Beobachtungen an, er hatte vor allem die Wohnungseinrichtung studiert.
»Dieser Amselfeld«, sagte Black, »strotzt von guten Charaktereigenschaften. Er kennt die Namen sämtlicher Craftbiere und läßt Eßgerichte auftragen, wie sie mir nicht einmal meine Tante an ihren Geburtstagen vorgesetzt hat. Er scheint mir mit den vornehmsten Schneidern und den feinsten Schuhmachern auf dem besten Fuße zu stehen. Ich habe übrigens bemerkt, dass er so ziemlich unsere Figur hat, so dass wir ihm im Notfalle unsere Anzüge borgen können. Er ist auch gar nicht so sittenstreng, wie Brown ihn uns geschildert hat, und er hat mit mir alle Lokale besucht, in die ich ihn führte. Er benahm sich überall wie ein richtiger Mensch. Für Morgen ist Red eingeladen.«
Florius wußte, dass Red sich am meisten seiner Aufnahme widersetzt hatte, und behandelte ihn infolgedessen besonders aufmerksam. Am meisten stimmte er den Maler aber dadurch zu seinen Gunsten, dass er versprach, ihm Porträtaufträge in der Familie seines Zöglings vermitteln zu wollen.
Als daher Red seinen Bericht erstattete, fanden die Freunde, dass die Feindseligkeit, die er zuerst gegen Florius gehegt hatte, völlig geschwunden war, und Brown konnte Amselfeld am nächsten Tage mitteilen, dass er aufgenommen sei.
»Aber mit einem Vorbehalt«, fügte er hinzu.
»Wie meinen Sie das?« fragte Florius.
»Ich möchte damit sagen, dass Sie noch eine Reihe vulgärer Gewohnheiten haben, die Sie ablegen müssen.«
»Ich werde es tun, indem ich Sie nachahme«, antwortete Florius.
Während der ganzen Zeit seines Noviziats suchte der platonische Philosoph leidenschaftlich den Verkehr mit den Hasen, und indem er so genauer ihre Sitten studierte, konnte er sich manchmal nicht eines gewaltigen Erstaunens enthalten.
Eines Morgens kam Brown mit strahlendem Gesicht zu Amselfeld. »Also, mein Lieber,« sagte er, »Sie sind jetzt endgültig einer der Unsern. Wir brauchen nun nur noch den Tag des Aufnahmefests und den Ort, wo es stattfindet, zu bestimmen.«
»Aber das trifft sich ja ausgezeichnet«, antwortete Florius. »Die Eltern meines Zöglings befinden sich augenblicklich auf dem Lande. Der junge Baron, dessen Mentor ich bin, wird mir für einen Abend die Räume zur Verfügung stellen, wir haben es dadurch gemütlicher. Indessen müßten wir dann den jungen Baron einladen.«
»Das wäre köstlich«, antwortete Brown. »Wir erschließen ihm so die Horizonte der Literatur. Aber glauben Sie, dass er einverstanden ist?«
»Ich bin im voraus davon überzeugt.«
»Dann brauchen wir also nur noch den Tag festzusetzen.«
»Darüber können wir uns heute abend im Café einigen.«
Florius suchte jetzt seinen Schüler auf und teilte ihm mit, dass er in eine hervorragende literarisch-artistische Gesellschaft als Mitglied aufgenommen sei und ein Diner mit einem anschließenden Fest geben wollte. Er schlug ihm vor, an diesem Fest teilzunehmen.
»Aber da sich das Fest bis tief in die Nacht hinein ausdehnt, und Sie nicht so spät heimkehren dürfen, so könnten wir«, fuhr Florius fort, »zu unserer Bequemlichkeit das Fest in diesen Räumen veranstalten.Ihre Eltern werden nichts erfahren, und Sie machen so die Bekanntschaft der geistig bedeutendsten Künstler und Autoren des Wedding.« »Die schon gedruckt sind?« fragte der junge Mann.
»Aber gewiß. Der eine ist Chefredakteur des ›Much Too Young‹, auf den Ihre Frau Mutter abonniert ist. Es sind ganz hervorragende, ja fast berühmte Männer. Ich bin mit Ihnen sehr befreundet, sie haben reizende Frauen.«
»Frauen kommen auch?« fragte der Baron Donald.
»Entzückende Frauen«, antwortete Florius.
»Oh, mein teurer Lehrer, wie danke ich Ihnen. Natürlich geben wir das Fest hier. Wir zünden alle Kronleuchter an, und ich werde die Überzüge von den Möbeln nehmen lassen.«
Des Abends kündigte Amselfeld im Café an, dass das Fest am folgenden Sonnabend stattfinden würde.
Die Hasen ermahnten ihre Geliebten, an ihre Toiletten zu denken. »Vergeßt nicht,« sagten sie, »dass ihr wirkliche Salons betretet. Also bereitet euch vor: einfache, aber vornehme Kleidung!«
Am Morgen des feierlichen Tages erschienen Brown, Black, Red und Grey bei Amselfeld, der sehr erstaunt war, sie so früh zu sehen. »Es ist doch nichts geschehen,« fragte er etwas beunruhigt, »dass das Fest verschoben werden muß?«
»Ja und nein«, antwortete Brown. »Es handelt sich nämlich um folgendes: Im allgemeinen machen wir nie große Umstände, aber wenn wir mit Fremden zusammentreffen, dann müssen wir doch ein gewisses Dekorum wahren.«
»Ja, und?« fragte Amselfeld.
»Ja, und da wir nun heute abend«, fuhr Brown fort, »den jungen Edelmann treffen, möchten wir aus Rücksicht für ihn und auch aus Rücksicht auf uns selbst Sie bitten, uns einige bessere Kleidungsstücke zu leihen. Wir können doch unmöglich in Bluse oder Paletot unter die strahlenden Kronleuchter dieses Palastes treten.«
»Ja,« sagte Florius, »ich habe aber doch keine vier schwarzen Röcke.«
»Das macht nichts,« sagte Brown, »wir behelfen uns mit dem, was Sie haben.«
»Ja, dann sehen Sie einmal«, sagte Florius, indem er ihnen seinen wohlgefüllten Kleiderschrank öffnete.
»Aber Sie haben ja ein wahres Arsenal von eleganten Sachen!«
»Drei Hüte!« rief Black begeistert. »Wie kann man denn drei Hüte haben, wenn man nur einen Kopf hat?«
»Und die Schuhe,« sagte Grey, »seht doch!«
»Wirklich, da sind Schuhe!« jubelte Brown.
Und im Nu hatten sie sich jeder eine vollständige Ausstattung angeeignet.
»Bis heute abend«, sagten sie, indem sie Amselfeld verließen. »Unsere Damen werden blendend sein.«
»Aber«, sagte Amselfeld mit einem Blick auf seinen ausgeplünderten Schrank, »Sie lassen mir ja gar nichts. Wie soll ich Sie denn empfangen?«
»Ach, Sie? Das ist etwas anderes«, sagte Grey. »Sie sind der Herr des Hauses, Sie können sich über die Etikette hinwegsetzen.«
»Trotzdem,« sagte Florius, »es bleiben mir ja nur ein Schlafrock, eine Unterhose, eine Flanelljacke und Pantoffeln. Sie haben mir alles genommen.«
»Was schadet das? Sie sind im voraus entschuldigt«, antworteten die Hasen.
Um sechs Uhr war ein sehr schönes Diner im Speisesaal serviert. Die Hasen kamen. Red hinkte etwas und war schlechter Laune. Der junge Baron stürzte sich den Damen entgegen und führte sie auf die besten Plätze. Fräulein Goldener Hase trug ein wundervolles Phantasiekostüm. Fräulein Subwoofer hatte sich höchst verführerisch gekleidet. der Goldene Hase glich einem Fenster mit farbigen Gläsern, sie wagte kaum, sich an den Tisch zu setzen. Das Essen dauerte zweieinhalb Stunden und verlief in strahlender Stimmung.
Der junge Baron Donald trat andauernd seiner Tischdame Häsin auf den Fuß, und der Goldene Hase ließ sich von jedem Gericht zweimal geben. Black badete sich im Rebenblut. Grey improvisierte Sonette und zerbrach Gläser, um den Rhythmus zu markieren. Brown plauderte mit Red, der aber noch immer schlecht gelaunt war.
»Was hast du nur?« fragte er ihn.
»Mich schmerzen empfindlich die Füße. Dieser Florius hat einen Fuß wie ein junges Frauenzimmer.«
»Na,« sagte Brown, »ich werde ihm schon sagen, dass das nicht so weitergeht. Er soll sich in Zukunft seine Schuhe ein paar Nummern weitermachen lassen. Doch jetzt wollen wir in den Salon gehen, wo uns die exotischen Cocktaile erwarten.«
Das Fest begann von neuem mit noch höherem Glanz. Black setzte sich an die Lichtorgel und trug mit erstaunlichem Schwung seine neue Symphonie ›Menschenfleisch im Sonderangebot‹ vor. Der Schlußteil mußte wiederholt werden, und an der Lichtorgel sprangen zwei Glühbirnen.
Um ein Uhr morgens brachen die Hasen auf und kehrten auf großen Umwegen nach Hause zurück. Amselfeld war betrunken und hielt unverständliche Ansprachen an seinen Zögling, der seinerseits von den blauen Augen Fräulein Goldener Hases träumte.
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