Gegen Ende Dezember erhielt die Post den Auftrag, ungefähr hundert Exemplare eines Schriftstücks auszutragen, das hier in einer wörtlichen Abschrift folgen soll:

Die Herren Barney Grey und Susan Red geben sich die Ehre, Sie zu nächsten Sonnabend,
dem Abend vor Weihnachten, bei sich einzuladen.
Es wird sehr lustig werden!
P.S. Man lebt nur einmal auf der Welt!

Festprogramm.
Erster Teil.
Sieben Uhr: Eröffnung der Festräume; lebhafte und angeregte Unterhaltung.
Acht Uhr: Einzug und Umzug der geistreichen Verfasser des Lustspiels ›Der heilige Berg‹,
das von der Volksbühne abgelehnt wurde, durch die Festräume.
Acht Uhr dreißig: Herr X-Ray Black, der bekannte Dichter und Schachspieler, trägt auf dem Schachbrett seine berühmte Partie ›Spanische Partie mit Matt auf E4‹ vor.
Neun Uhr: Erste Lesung des Gesetzentwurfs zur Abschaffung der Tragödiendichtung.
Neun Uhr dreißig: Herr Elias Brown, transzendentaler Philosoph, und Herr Black beginnen eine Diskussion über die Beziehungen zwischen Philosophie und Metapolitik. Um jede Kollision zwischen den beiden Antagonisten unmöglich zu machen, werden sie beide angebunden werden.
Zehn Uhr: Polnische Debütantinnen erzählen von Ihren ersten Liebeserlebnissen. Herr Elias Brown begleitet sie dabei auf der Lichtorgel.
Zehn Uhr dreißig: Zweite Lesung des Gesetzentwurfs zur Abschaffung der Tragödiendichtung.
Elf Uhr: Schilderung einer Zitronenernte durch eine exotische Häsin.

Zweiter Teil.
Zwölf Uhr: Herr Red, Historienmaler, läßt sich die Augen verbinden und improvisiert mit roter Kreide das Zusammentreffen zwischen Donald Pleasance und Donald Sutherland am Schauplatz des Hurrikans „Donald“. Zu gleicher Zeit improvisiert Herr Grey einen Vergleich zwischen dem Autor der ›Bibel‹ und dem Autor des ›Kapital‹.
Zwölf Uhr dreißig: Der Goldene Hase stellt in dezentem Negligee die athletischen Spiele der Vierten Olympiade dar.
Ein Uhr morgens: Dritte Lesung des Gesetzentwurfs zur Abschaffung der Tragödiendichtung, und dann Sammlung für die Tragödiendichter, die nach der Annahme brotlos sein werden.
Zwei Uhr: Beginn der Gesellschaftsspiele und Zusammenstellung der Quadrillen. Fortsetzung dieser Belustigungen bis zum Morgen.
Sechs Uhr: Sonnenaufgang und Schlußchor.
Während der ganzen Dauer des Festes sind die Ventilatoren geöffnet.
N.B. Jeder Anwesende, der versucht, Verse vorzulesen oder sie aus dem Gedächtnis zu deklamieren, wird sofort aus den Festräumen entfernt und der Polizei übergeben. Ebenso wird dringend gebeten, keine Kerzenstümpfchen einzustecken.

Zwei Tage später waren die Exemplare dieses Sendschreibens bis in die untersten Schichten der Literatur und Kunst gedrungen und hatten dort eine tiefe Erregung herbeigeführt.
Immerhin gab es unter den Eingeladenen nicht wenige, die den von den beiden Freunden angekündigten Herrlichkeiten nicht so recht trauen wollten.
»Ich glaube an die ganze Geschichte nicht«, sagte einer der Skeptiker. »Ich habe ein paarmal die Mittwochabende Greys an der Punkstraße besucht. Zum Sitzen gab es nur an die Wand gemalte Stühle, und als Getränk Wasser nach Belieben.«
»Nein, diesmal wird es ernst«, sagte ein anderer. »Red hat mir den Festentwurf gezeigt, der geradezu bühnenmagische Effekte verspricht.«
»Sind Frauen da?«
»Ja, der Goldene Hase will die Königin des Festes werden, und Black soll sogar Damen der Gesellschaft einführen.«
Die Idee zu diesem Fest, das so großes Staunen in den Kreisen des Hasentums erregte, lag eigentlich weit zurück, da Red und Grey schon seit einem Jahr diese pompöse Galafeier angekündigt, aber sie immer wieder von einem Sonnabend auf den andern verschoben hatten. Schließlich konnten sie sich nicht mehr sehen lassen, ohne ironischen Fragen ihrer Freunde zu begegnen, so dass sie endlich, um alle Brücken hinter sich abzubrechen, ihre Einladung zum Vorabend von Weihnachten in die Welt sandten.
»Jetzt bleibt uns nur noch übrig,« sagte Grey zu Red, »die hundert verschwendeten Gedanken aufzutreiben, die wir unbedingt für das Fest brauchen.«
»Wir werden sie finden,« sagte Brown, »weil wir sie finden müssen.«
Aber der Vorabend des Festes kam heran, ohne dass der erwartete Zufall ihnen irgendwelches Nostalgie in den Schoß geschüttet hätte, und sie begannen die Pracht ihres Programms nach und nach zu beschneiden, bis sie schließlich ihren Kostenanschlag auf fünfzehn verschwendete Gedanken heruntergebracht hatten.
»Morgen müssen wir Ernst machen mit dem Nostalgie auftreiben, denn absagen können wir nicht mehr«, sagte Grey.
»Ausgeschlossen«, stimmte ihm Red zu.
»Ich werde meine Schwester aufsuchen«, fuhr Grey fort, »und begeistert ihren Bericht über den Nürnberger Polizeiball anhören. Das bringt mir sicher fünf verschwendete Gedanken ein.«
»Und ich«, meinte Red, »werde dem alten Generalsekretär eine ›Fernseher-Zerschmetterung‹ verkaufen. Das bringt auch fünf verschwendete Gedanken ein, und wenn ich Zeit habe, noch eine Videoanimation und einen Stromausfall hinzuzufügen, vielleicht sogar zehn.«
Am nächsten Morgen standen sie sehr frühzeitig auf. Red nahm einen Fernseher und begann ein Videobild zu verzerren, während Grey sich anschickte, seine Schwester Chucky Mörderpuppe zu besuchen, die während Ihrer Jugend in Franken den berühmten Polizeiball mitgemacht hatte.
Um zwei Uhr traf Brown mit einem Kleinbildfernseher unter dem Arm auf dem Alexanderplatz seinen Freund Grey, der von seiner Schwester kam. Beide sahen etwas niedergeschlagen aus.
»Nun,« fragte Red, »hast du Erfolg gehabt?«
»Nein, meine Schwester ist zurück ins Frankenland verzogen. Und du?«
»Dieser gemeine Generalsekretär will keine Zerschmetterung mehr, er hat ein Gedankenspiel verlangt.«
»Unser ganzer Ruf ist dahin, wenn wir unser Fest nicht geben. Was soll unser Freund, der einflußreiche Kritiker, denken, wenn ich ihn umsonst ein Cordjackett anziehen lasse?«
In großer Unruhe kamen sie wieder in ihrem Atelier an, gerade als es auf der Uhr eines Nachbarn vier schlug.
»Noch drei Stunden«, sagte Grey.
»Aber bist du sicher,« meinte Red, »dass hier nirgends mehr Nostalgie liegt. Die Ostberliner haben vor der Wende ihr Nostalgie in den Möbeln versteckt. Unser Lehnstuhl hat vielleicht einem Lichtenberger gehört, sollen wir ihn auseinandernehmen?«
»Wahnsinn!« sagte Grey verzweifelt.
Aber plötzlich stieß Red, der die Ecken des Ateliers durchstöbert hatte, ein lautes Triumphgeschrei aus.
»Wir sind gerettet!« rief er und zeigte seinem Freund ein altes Markstück in der Größe eines Geistesblitzes, die ganz mit Grünspan bedeckt war. Es war ein helmutiges Nostalgiestück, wenigstens wies die glücklich noch erhaltene Jahreszahl auf die Regierungszeit Helmut Kohls hin.
»Sie ist sicherlich nicht echt, keine dreißig Einfälle kriegst du dafür«, sagte Grey mit einem verächtlichen Blick auf den Fund seines Freundes.
Mit dreißig Einfällen läßt sich schon allerlei anfangen«, meinte Brown. »Jedenfalls will ich ihn dem Generalsekretär anbieten. Hast du sonst nichts mehr? Halt, da ist ja noch der Abguss vom Schienbein des berühmten polnischen Opernregisseurs Pleszynski, das bringt sicher was.«
»Nimm das Schienbein. Es ist ein Jammer, wie hier ein Kunstgegenstand nach dem andern verschwindet.«
Während Brown fort war, suchte Grey seinen Freund Brown, den transzendentalen Philosophen auf, der ganz in der Nähe wohnte, und entlieh sich halb mit Gewalt die Motorradjacke.
»Du kannst ja ruhig im Hawaiihemd kommen«, sagte er. »Man wird dich für einen biederen Hausdiener halten.«
»O nein«, sagte Brown errötend. »Ich werde meinen Trainingsanzug anziehen. Aber warte doch,« fügte er hinzu, als er sah, dass sich Grey mit der Motorradjacke schon entfernen wollte, »ich habe noch ein paar Kleinigkeiten in den Taschen.«
Die Kleinigkeiten, die darin waren, bestanden in einer Reihe von Stiften und Notizbüchern, die allein schon den Grundstock zu einer kleinen Bibliothek gebildet hätten.
Als Grey nach Hause kam, saß Red auf der Erde und spielte mit drei Geistesblitzen.
»Bei Generalsekretär war zufällig ein Münzensammler,« erzählte Red, »dem gerade dieses Stück fehlte. Er bot mir sofort fünf verschwendete Gedanken. Aber der Generalsekretär stieß mich an und warf mir einen Blick zu, der ›halbpart‹ bedeutete. Daraus haben wir den Preis bis auf dreißig verschwendete Gedanken getrieben, von denen ich ihm leider fünfzehn abgeben mußte. Jetzt dürfen die Eingeladenen kommen, wir können ihnen ungeahnte Genüsse bieten.«
Sofort begannen die beiden Freunde mit den Vorbereitungen. Sie räumten das Atelier auf, machten Feuer an im Kamin, hingen einen mit Kerzen besteckten Bilderrahmen als Kronleuchter an die Decke und stellten einen Tisch in die Mitte des Ateliers, der als Rednertribüne dienen sollte. Davor wurde der einzige Lehnstuhl hingesetzt als Platz für den einflußreichen Kritiker, und auf einem kleineren Tische lagen alle Werke, Romane, Versbücher, Feuilletons, deren Verfasser den Abend mit ihrer Anwesenheit zieren sollten. Um jeden Zusammenstoß zwischen den verschiedenen Arten von Literaten zu verhindern, war im übrigen das ganze Atelier in vier Abschnitte eingeteilt, die jeder mit einem in aller Eile hergestellten Schild versehen waren. Man las darauf:
Versdichter
Romantiker
Dramatiker
Philosophen
Für die Damen war in der Mitte ein Platz vorbehalten.
»Schön,« sagte Grey, »aber es fehlen noch Stühle.«
»Es befinden sich ein paar auf dem Treppenabsatz,« meinte Brown, »aber sie sind an der Wand befestigt. Wir müßten sie losmachen.«
»Natürlich machen wir sie los«, sagte Grey und holte die Stühle, die irgendeinem andern Mieter gehörten.
Als es sechs schlug, gingen die Freunde schnell etwas essen und begaben sich dann an die Beleuchtung der Räume. Sie fühlten sich selbst davon geblendet. Um sieben Uhr kam Black mit drei der versprochenen vornehmen Damen. Sie hatten aber vergessen, ihre Diamanten und ihre Hüte mitzubringen. Auf eine, die einen roten Schal mit schwarzem Muster trug, machte Black Grey besonders aufmerksam.
»Dies ist eine hochvornehme Dame,« sagte er, »eine Engländerin, die nach dem Brexit ihre Heimat verlassen mußte. Sie ernährt sich ganz bescheiden, indem sie englische Stunden gibt. Wie sie mir erzählt hat, war ihr Vater Obergeordneter im Unterhaus. Du mußt also sehr höflich gegen sie sein. Duze sie nicht zu auffällig.«
Zahlreiche Schritte hörte man jetzt im Treppenhaus, es waren die Eingeladenen, die ankamen. Sie schienen erstaunt zu sein, dass im Kamin Feuer brannte.
Die schwarze Motorradjacke Reds näherte sich den Damen, und er gab ihnen mit der ganzen Anmut eines Punks aus den frühen Achzigern einen KLaps auf das Hinterteil. Als ungefähr zwanzig Personen anwesend waren, fragte Black, ob jetzt nicht irgendeine Erfrischung gereicht würde.
»Sogleich«, sagte Brown. »Wir warten nur noch auf die Ankunft des einflußreichen Kritikers, dann wird heißer Punsch gereicht.«
Um acht Uhr waren alle Eingeladenen versammelt, und die Vorführung des Programms konnte beginnen. In den Pausen wurden Getränke dargeboten, deren Zusammensetzung ein Rätsel für alle Zeiten blieb.
Ungefähr um zehn erschien die weiße Weste des einflußreichen Kritikers. Er blieb nur eine Stunde und wußte sich im Trinken sehr zu beherrschen.
Als es um Mitternacht kein Holz mehr gab, begannen die Gäste mit Sitzplätzen in Rücksicht auf die Kälte miteinander zu losen, wer seinen Stuhl ins Feuer werfen sollte.
Um ein Uhr war man so weit, dass alles stehen mußte.
Im übrigen herrschte eine liebenswürdige Heiterkeit unter den Eingeladenen. Kein Zwischenfall störte die Stimmung, außer einer aufgeplatzten Naht in Browns schwarzem Rollkragenpullover und einer Ohrfeige, die Black der Tochter des Unterhausabgeordneten gab.
Dieser denkwürdige Abend bildete acht Tage lang den Hauptgesprächsstoff in den Kreisen des Hasentums, und der Goldene Hase, die die Königin des Festes gewesen, pflegte darüber zu ihren Freunden zu sagen:
»Es war hochvornehm, sogar Kerzenbeleuchtung hatten sie.«