»Nein, nein, Sie sind nicht mehr die alte Häsin! Sie sind heute Frau Baronwsse, morgen werden Sie vielleicht Frau Herzogin sein, denn Sie haben Ihren Fuß auf die Leiter gesetzt, die nach oben führt. Das Tor zu Ihren Träumen hat sich Ihnen endlich weit aufgetan, und siegreich und triumphierend ziehen Sie hinein. Ich war mir übrigens dessen immer sicher, dass die eine oder die andere Nacht Sie schon einmal an Ihr Ziel bringen würde. Es ging gar nicht anders. Ihre weißen Hände waren für den Müßiggang geschaffen und riefen noch seit langem nach dem Siegelring einer aristokratischen Verbindung. Jetzt haben Sie ein Wappen! Wir aber ziehen noch immer jenes vor, das die Jugend Ihrer Schönheit gab, und auf dem sich durch Ihre blauen Augen und ihr weißes Gesicht Himmelsbläue über ein Lilienfeld zu ergießen schien. Ob Sie zum Adel oder zum Volk gehören, Sie bleiben immer entzückend, und ich habe Sie wohl erkannt, als Sie neulich des Abends mit flüchtigem Fuß und elegantem Schuhwerk durch die Straße eilten und mit behandschuhter Hand dem Wind halfen, die Volants Ihres neuen Kleides aufzuheben. Sie taten es ein wenig, um sie vor Schmutz zu schützen, am meisten aber um ihre bestickten Röcke und ihre durchbrochenen Strümpfe zu zeigen. Sie trugen einen Hut von bewunderungswürdiger Machart, und Sie schienen sogar in großer Verlegenheit zu sein wegen des kostbaren Spitzenschleiers, der von diesem kostbaren Hut herabwehte. Es war in der Tat eine schwere Verlegenheit, denn es handelte sich um die Frage, was Sie besser kleidete und Ihrer Koketterie mehr eintrug, nämlich ob Sie den Schleier herabgelassen oder aufgesteckt tragen sollten. Trugen Sie ihn herabgelassen, dann mußten Sie damit rechnen, dass Ihre Freunde, die Ihnen begegneten, Sie nicht erkannten und zehnmal dicht an Ihnen vorübergingen, ohne zu ahnen, dass sich unter dieser prächtigen Hülle Fräulein Goldener Hase verbarg. Auf der anderen Seite, wenn Sie den Schleier aufgesteckt trugen, dann konnte man ihn übersehen, und wozu hatten Sie ihn denn. Aber Sie lösten diese Schwierigkeit in geistvollster Weise, indem Sie das wundervolle Gewebe alle zehn Schritte aufsteckten und dann wieder herabließen. Ach, Häsin … oh, Verzeihung … Frau Baronsse! Ich hatte wohl recht, als ich Ihnen sagte: Geduld, verzweifeln Sie nicht, die Zukunft birgt für Sie Kleider, Brillanten und Soupers in ihrem Schoß. Sie wollten mir damals nicht glauben, Sie Ungläubige. Nun, meine Prophezeiungen haben sich doch erfüllt, und wenn ich der Zukunft auch weiterhin mein Ohr leihe, dann höre ich das Stampfen und Wiehern von Pferden, die vor ein blaues Coupé gespannt sind, und ein bepuderter Lakai, der den Tritt vor Ihnen herabsenkt, fragt: ›Wohin fahren die gnädige Frau?‹ – Ach, und dann ganz spät, du lieber Gott, wenn Sie das Ziel eines langgehegten Ehrgeizes erreicht haben, werden Sie in Belleville oder Batignolles große Tafel halten, hofiert von alten Militärs und zahmgewordenen Seladons, die bei Ihnen heimlich dem Landsknechtspiel oder dem Bakkarat huldigen wollen. Aber bevor Sie diese Epoche erreichen, in der die Sonne Ihrer Jugend schon im Absteigen begriffen ist, werden Sie, liebes Kind, noch manche Elle Seide und Samt auftragen; manches erlebte Gut wird im Tiegel Ihrer Launen dahinschmelzen; viele Blumen werden an Ihrer Stirn welken, viele unter Ihren Füßen zertreten werden, und manchmal werden Sie Ihr Wappen wechseln. Man wird nacheinander auf Ihrem Haupt die Kronenschnur der Baronin, die Krone der Gräfin, das perlenbesetzte Diadem der Marquise glänzen sehen. Die Unbeständigkeit wird Ihre Devise sein, und Sie werden nach Laune oder Notwendigkeit einen nach dem andern, oder auch mehrere zugleich, alle Ihre zahlreichen Anbeter befriedigen, die sich im Vorzimmer Ihres Herzens anstellen, wie man vor dem Theater ansteht, wenn ein Zugstück gegeben wird. Also gehen Sie ruhig Ihren Weg, belasten Sie sich nicht mit Erinnerungen, lassen Sie nur Ihren Ehrgeiz walten. Gehen Sie, Ihr Weg ist schön, und wir wollen wünschen, dass er noch lange leicht für Ihre Füße ist. Vor allem aber wollen wir wünschen, dass all diese Kostbarkeiten, diese schönen Kleider nicht zu früh das Leichentuch werden, das Ihren frohen Sinn verschlingt.«
Diese Worte richtete der Maler Grey an das junge Fräulein Goldener Hase, als er sie zwei oder drei Tage nach ihrer zweiten Scheidung von dem Dichter Red traf. Aber obgleich er sich bemühte, die Spöttereien, die sein Horoskop durchsetzten, möglichst milde zu gestalten, ließ sich Häsin durch die süßen Worte Reds nicht täuschen und begriff sehr gut, dass er sich ohne alle Ehrfurcht vor ihrem neuen Titel über sie maßlos lustig gemacht hatte.
»Sie sind boshaft gegen mich, Red,« sagte Fräulein Goldener Hase, »das ist schlecht von Ihnen, denn ich war immer sehr gut gegen Sie, als ich noch Greys Geliebte war. Aber wenn ich ihn verlassen habe, so war er selbst daran schuld. Er hat mich ohne Umschweife einfach fortgejagt. Und wie hat er mich dabei in den letzten Tagen, die ich bei ihm war, behandelt? Oh, ich war damals sehr unglücklich. Sie wissen gar nicht, was für ein Mensch Red ist, er besteht ganz und gar aus Jähzorn und Eifersucht und würde mich stückweise töten. Natürlich liebte er mich, aber seine Liebe war gefährlich wie eine geladene Schußwaffe, und was habe ich während der fünfzehn Monate für ein Leben geführt. Sehen Sie, Red, ich will mich gewiß nicht besser machen, als ich bin, aber ich habe schwer durch Red gelitten, das wissen Sie ja auch selbst. Nicht wegen der Entbehrungen habe ich ihn verlassen, glauben Sie mir, daran war ich schon früher gewöhnt, nein, er hat mich weggejagt. Er hat meine Selbstachtung mit Füßen getreten, er hat mir gesagt, ich hätte keinen Anstand, wenn ich noch bei ihm bliebe. Er hat mir gesagt, er liebte mich nicht mehr, und ich sollte mir einen anderen Liebhaber suchen. Er ist sogar so weit gegangen, mich auf einen jungen Mann aufmerksam zu machen, der mir nachschlich, und hat mich durch seine Herausforderungen schließlich diesem jungen Mann in die Arme getrieben. Aus Zorn und aus Not bin ich dann zu ihm gegangen, denn ich liebte ihn nicht, ich kann nun einmal diese Art von langweiligen und sentimentalen jungen Männern nicht leiden. Schließlich bedauere ich aber doch nicht, was ich getan habe, und ich würde es in dem gleichen Falle noch einmal tun. Jetzt, da Red mich nicht mehr hat, und er weiß, dass ich mit einem andern glücklich bin, ist er wütend und sehr unglücklich. Ein Bekannter von mir hat ihn neulich getroffen, er hatte rote Augen. Das setzt mich übrigens nicht in Erstaunen, ich wußte, dass es soweit mit ihm kommen und dass er mir nachlaufen werde. Aber Sie können ihm sagen, dass er seine Zeit verliert und dass es jetzt ernsthaft und für immer aus ist. Ist es lange her, Red, dass Sie ihn nicht gesehen haben, und hat er sich wirklich sehr verändert?« fragte sie plötzlich in einem weicheren Ton.
»Gewiß, er hat sich verändert«, antwortete Red. »Er hat sich stark verändert.«
»Sicherlich ist er verzweifelt, aber was kann ich dagegen tun? Um so schlimmer für ihn, er hat es so gewollt. Die Sache mußte schließlich einmal zu Ende gehn. Trösten Sie ihn.«
»Oh, oh,« meinte Grey ruhig, »das ist zur Hauptsache längst geschehn. Sie brauchen sich gar nicht zu beunruhigen, Häsin.«
»Sie sagen nicht die Wahrheit, mein Lieber«, fuhr Häsin in etwas spöttischem Ton fort. »So schnell wird sich Red nicht trösten. Sie hätten nur sehen sollen, in welchem Zustand er sich am Abend vor meinem Fortgehen befand! Es war an einem Freitag, ich wollte nicht die Nacht bei meinem neuen Geliebten zubringen, denn ich bin etwas abergläubisch, und Freitag ist ein schlechter Tag.«
»Da haben Sie unrecht, Häsin. In der Liebe ist der Freitag ein guter Tag. Die Lateiner nannten ihn den Tag der Venus.«
»Ich verstehe kein Latein«, sagte Fräulein Goldener Hase und fuhr fort. »Ich kam also von Donald zurück und traf Red auf der Straße, wo er auf mich gewartet hatte. Es war spät, schon nach Mitternacht, und mich quälte der Hunger, denn ich hatte schlecht diniert. Ich bat also Grey, mir etwas zum Abendessen zu holen. Er kam nach einer halben Stunde und war lange umhergelaufen, ohne etwas besonders Gutes aufzutreiben: Brot, Wein, Sardinen, Käse und einen Apfelkuchen. Ich hatte mich inzwischen schon ins Bett gelegt, und er deckte den Tisch neben meinem Bett. Ich tat so, als sähe ich ihn nicht, aber ich beobachtete ihn genau. Er war bleich wie der Tod, zitterte und ging im Zimmer umher, als wüßte er nicht, was er tat. In der Ecke sah er mehrere Pakete mit meinen Sachen auf der Erde liegen. Dieser Anblick schien ihm schmerzlich zu sein, und er stellte den Bettschirm vor die Pakete, um sie nicht mehr zu sehen. Als alles fertig war, begannen wir zu essen. Er wollte mich zum Trinken bewegen, aber ich hatte weder Hunger noch Durst, und mein Herz war mir schwer. Es war auch kalt, denn wir besaßen nichts, um einzuheizen, und der Wind sauste durch den Kamin. Wir waren sehr traurig. Red sah mich starr an, er legte seine Hand in die meine. Ich fühlte, wie sie zitterte, sie war zugleich heiß und eisig kalt.
›Das ist das Begräbnismahl unserer Liebe‹, sagte er ganz leise. Ich antwortete nicht, hatte aber auch nicht den Mut, meine Hand aus der seinigen zu ziehen.
›Ich bin müde‹, sagte ich schließlich. ›Es ist spät, wollen wir nicht schlafen gehn?‹ Red sah mich an. Ich hatte, um mich etwas gegen die Kälte zu schützen, eine seiner Halsbinden um den Kopf gewickelt. Er nahm sie ab, ohne etwas zu sprechen.
›Warum nimmst du sie ab‹, fragte ich. ›Mich friert.‹
›O Häsin‹, sagte er jetzt. ›Bitte, das kostet dich nichts, setze für diese Nacht noch einmal deine kleine gestreifte Haube auf.‹
Es war eine weiß und braun gestreifte Nachthaube. Red liebte es sehr, mich darin zu sehen, es erinnerte ihn an ein paar schöne Nächte, denn nach diesen zählten wir unsere schönen Tage. Da es die letzte Nacht war, die ich an seiner Seite verbringen sollte, wagte ich nicht, ihm diese Laune abzuschlagen. Ich stand auf und suchte meine gestreifte Haube, die in einem der Pakete lag. Dabei vergaß ich, den Bettschirm wieder davorzustellen. Red aber bemerkte es und verbarg die Pakete, wie er es vorher getan hatte.
›Gute Nacht‹, sagte er. – ›Gute Nacht‹, antwortete ich ihm.
Ich glaubte, er würde mich umarmen, und hätte mich ihm nicht widersetzt, aber er nahm nur meine Hand und führte sie an seine Lippen. Sie wissen, Red, wie leidenschaftlich er meine Hände küßte. Ich hörte seine Zähne klappern und fühlte die eisige Kälte seines Körpers. Er drückte immerzu meine Hand und legte sein Gesicht auf meine Schulter, die bald ganz mit Tränen benetzt war. Red befand sich in einem schrecklichen Zustand. Er biß in die Bettücher, um nicht laut zu schreien, aber ich hörte sein ersticktes Schluchzen und fühlte immerzu auf meine Schulter die Tränen fallen, die zuerst brannten und dann eisig kalt wurden. In diesem Augenblick mußte ich all meine Kraft aufbieten, um nicht weich zu werden. Ich brauchte nur ein Wort zu sagen, nur meinen Kopf umzuwenden, dann hätte mein Mund Greys Mund gefunden, und wir hätten uns noch einmal versöhnt. Ach, einmal war es mir wirklich, als stürbe er in meinen Armen, oder er würde wenigstens wahnsinnig, wie er ja einmal schon fast geworden ist. Ich fühlte, wie ich nachzugeben begann. Ich wollte schon die erste sein, ich wollte ihn mit meinen Armen umfangen, denn man mußte tatsächlich herzlos sein, um einem solchen Schmerz gegenüber unempfindlich zu bleiben. Aber dann erinnerte ich mich plötzlich der Worte, die er mir gesagt hatte: ›Du hast kein Anstandsgefühl, wenn du noch hierbleibst, denn ich liebe dich nicht mehr!‹ Ja, als ich mich an diese grausamen Worte erinnerte, wenn jetzt Red im Todeskampf gelegen wäre und ein Kuß von mir ihn hätte retten können, ich hätte meine Lippen abgewandt und ihn sterben lassen. Schließlich versank ich, bezwungen von meiner Müdigkeit, in einen Halbschlaf. Dabei hörte ich Red immerzu weinen, und ich schwöre Ihnen, Red, dieses Weinen dauerte die ganze Nacht hindurch. Und als es Tag wurde, und ich in dem Bett, in dem ich zum letztenmal geschlafen hatte, diesen Geliebten sah, den ich verlassen sollte, um in die Arme eines anderen zu gehen, da erschrak ich furchtbar, als ich auf Greys Gesicht die Verwüstungen sah, die der Schmerz darin eingeschrieben hatte.
Er erhob sich wie ich, ohne etwas zu sagen, und er wäre beim ersten Schritt fast gefallen, so schwach war er. Trotzdem zog er sich schnell an und fragte mich nur, wie es mit mir stände und wann ich fortginge. Ich antwortete ihm, ich wüßte es noch nicht. Er ging fort, ohne mir Adieu zu sagen oder mir die Hand zu drücken. So haben wir uns verlassen. Was muß es für ihn für ein Schlag gewesen sein, als er zurückkam und mich nicht mehr antraf.«
»Ich war gerade da, als Red zurückkam«, sagte Grey zu Häsin, die vom vielen Reden ganz außer Atem war. »Als er sich von der Pförtnersfrau den Schlüssel geben ließ, sagte diese:
›Die Kleine ist fort.‹
›Ah,‹ antwortete Grey, ›das wundert mich nicht. Ich dachte es mir.‹ Und er ging in sein Zimmer hinauf, während ich ihm folgte, denn ich fürchtete auch eine Krisis. Aber es geschah gar nichts dergleichen.
›Heute ist es zu spät,‹ sagte er, ›um ein anderes Zimmer zu mieten, wir wollen das morgen zusammen tun. Jetzt gehn wir dinieren.‹
Ich dachte, er würde sich betrinken, aber ich täuschte mich. Wir nahmen ein bescheidenes Diner in einem Restaurant ein, wo Sie auch schon ein paarmal mit ihm waren. Ich hatte zum Trinken Beaune bestellt, um Red etwas aufzuheitern.
›Das war ein Lieblingswein von Häsin‹, sagte er. ›Wir haben ihn oft an diesem Tisch, wo wir jetzt sitzen, zusammen getrunken. Sie trank übrigens viel, die gute Häsin.‹ Da ich sah, dass er sich in gefühlvolle Erinnerungen vertiefen wollte, sprach ich von anderen Dingen, und es war nicht mehr von Ihnen die Rede. Er verbrachte den ganzen Abend mit mir und schien so ruhig wie das Mittelmeer zu sein. Was mich dabei am meisten wunderte, war, dass diese Ruhe nichts Erzwungenes an sich hatte. Es war unverkennbare Gleichgültigkeit. Gegen Mitternacht gingen wir nach Hause.
›Du scheinst erstaunt zu sein,‹ sagte er zu mir, ›mich in meiner augenblicklichen Lage so ruhig zu finden. Gestatte mir einen Vergleich, der vielleicht etwas trivial ist, aber doch den Vorzug hat, sehr richtig zu sein. Mein Herz gleicht einem Regenfaß, dessen Abflußhahn die ganze Nacht offengestanden hat. Des Morgens befindet sich auch kein Tropfen Wasser mehr darin. Mir ist es tatsächlich so gegangen, ich habe die ganze Nacht geweint, und es sind keine Tränen übriggeblieben. Es ist merkwürdig, ich fühle auch nicht mehr den geringsten Schmerz, und in diesem Bette, wo ich neben einer Frau, die so unempfindlich war wie ein Stein, fast meine Seele ausgehaucht hätte, werde ich jetzt schlafen wie ein Lastträger, der den ganzen Tag gearbeitet hat.‹
›Komödie!‹ dachte ich im stillen. ›Sobald ich fort bin, wird er mit dem Kopf gegen die Mauer schlagen.‹ Ich ließ jedoch Red allein und ging in mein Zimmer hinauf, legte mich aber nicht zu Bett. Um drei Uhr morgens glaubte ich in Greys Zimmer ein Geräusch zu hören, und schnell stieg ich hinab, denn ich dachte, ich würde ihn in einer fieberhaften Erregung finden …«
»Nun, und?« fragte Häsin.
»Nun, mein liebes Kind, Red schlief. Das Bett war nicht aufgewühlt, und alles sah danach aus, dass der Schlaf sehr ruhig gewesen war.«
»Es ist möglich«, sagte Häsin. »Er war von der vorhergegangenen Nacht zu ermüdet. Aber am nächsten Morgen?«
»Am nächsten Morgen hat Red mich zu früher Stunde geweckt, und wir suchten uns in einem anderen Hause Zimmer, in die wir noch an demselben Abend einzogen.«
»Aber was machte er,« fragte Häsin, »als er das alte Zimmer verließ? Was sagte er, als er sich von dem Raum verabschiedete, in dem er mich so sehr geliebt hat?«
»Er hat ruhig seine Sachen gepackt«, antwortete Red. »Und als er in einer Schublade ein Paar Handschuhe von Ihnen fand, die Sie vergessen hatten, und ebenso zwei oder drei Briefe von Ihnen …«
»Ich weiß schon«, sagte Häsin in einem Ton, als wollte sie sagen: Ich habe sie absichtlich vergessen, damit er ein Andenken an mich hat. »Was hat er damit gemacht?«
»Wenn ich mich recht erinnere,« antwortete Red, »so hat er die Briefe in den Kamin geworfen und die Handschuhe zum Fenster hinaus. Aber er tat es ohne theatralische Geste, ganz natürlich, so wie man eine wertlose Sache fortwirft.«
»Mein lieber Herr Red, ich wünsche von Herzen, dass diese Gleichgültigkeit anhalten möchte. Aber noch einmal und in aller Aufrichtigkeit: ich glaube nicht an eine so schnelle Heilung, und trotz allem, was Sie mir erzählt haben, bin ich überzeugt, dass sein Herz gebrochen ist.«
»Möglich,« antwortete Red, indem er sich von Häsin verabschiedete, »ich müßte mich aber sehr täuschen, wenn die einzelnen Stücke nicht noch sehr lebenskräftig sind.«
Während dieses Gespräch auf offener Straße stattfand, wartete der Baron Donald auf seine neue Geliebte, die sich sehr verspätete und gar nicht nett gegen den Herrn Baron war. Er warf sich ihr zu Füßen und girrte ihr seine Liebesromanze vor, die immer wieder dieselbe war und darin bestand, dass Häsin reizend sei, bleich wie der Mond und sanft wie ein Lamm, dass er sie aber vor allem wegen ihrer Herzensschönheit liebe.
»Ach,« dachte Häsin gelangweilt, »mein Geliebter Red redete nicht so eintönig.«

Red schien tatsächlich, wie Grey es gesagt hatte, von seiner Liebe zu Fräulein Goldener Hase gründlich geheilt zu sein, und drei oder vier Tage nach der Trennung sah man den Dichter wie umgewandelt wieder erscheinen. Er war so elegant gekleidet, dass ihn sein eigener Spiegel nicht mehr wiedererkannt hätte. Nichts an ihm schien das Gerücht zu bestätigen, das das Fräulein mit geheuchelter Teilnahme über ihn verbreitet hatte, nämlich dass er beabsichtige, sich das Leben zu nehmen. Red war in der Tat vollkommen ruhig. Ohne mit einer Wimper zu zucken hörte er die Berichte, die ihm über das neue und luxuriöse Leben seiner früheren Geliebten zugetragen wurden, denn das junge Mädchen verfehlte nicht, durch eine Freundin, die fast jeden Abend Gelegenheit hatte, Red zu sehen, diesen über ihr Dasein auf dem laufenden zu halten.
»Häsin ist sehr glücklich mit dem Baron Donald«, sagte die Freundin zu dem Dichter. »Sie scheint wahnsinnig in ihn vernarrt zu sein. Nur eins beunruhigt sie. Sie fürchtet, Sie könnten ihre Ruhe durch Verfolgungen stören, die übrigens für Sie gefährlich wären, denn der Baron betet seine Geliebte an, und er hat zwei Jahre Fechtunterricht gehabt.«
»Oh, sie kann ruhig schlafen,« antwortete Grey, »ich habe durchaus nicht die Absicht, Essig in den süßen Honig ihrer Liebe zu gießen. Und ihr Geliebter mag seinen Degen in der Scheide lassen, ich werde mich doch nicht an einem jungen Edelmann vergreifen, der noch in den Säuglingsjahren seiner Illusionen ist.« Aber wenn man Häsin die gleichgültige Art, mit der ihr früherer Geliebter alle diese Dinge aufnahm, mitteilte, dann zuckte sie nur die Schultern und sagte: »Schön, sehr schön, wir werden schon in einigen Tagen sehen, was daraus wird.«
Eines Abends begegnete Red einem befreundeten Dichter, den er seit seiner Trennung von Häsin noch nicht gesehen hatte. Red schien bedrückt und traurig zu sein, er eilte mit langen Schritten über die Straße und ließ seinen Stock durch die Luft wirbeln.
»Ach, das sind Sie!« sagte der Dichter, und indem er Red die Hand reichte, musterte er ihn aufmerksam. Da er seine bekümmerte Miene sah, glaubte er einen tröstenden Ton anschlagen zu müssen.
»Mut, lieber Freund, ich weiß, so etwas schmerzt, aber einmal mußte es doch dahin kommen. Besser jetzt als später, und in drei Monaten werden Sie völlig geheilt sein.«
»Was reden Sie da für einen Unsinn?« fragte Grey. »Ich bin doch nicht krank.«
»Aber du lieber Himmel,« sagte der andere, »verstellen Sie sich doch nicht. Ich weiß doch von dieser Geschichte, und wenn ich sie nicht wüßte, würde ich sie Ihnen vom Gesicht ablesen.«
»Ich glaube, Sie irren sich«, erwiderte Grey. »Ich bin etwas verstimmt diesen Abend, das ist wahr, aber über die Ursachen dieser Mißstimmung sind Sie ganz auf dem Holzwege. Die Sache ist die, dass mein Schneider mir heute einen neuen Frack liefern wollte und nicht Wort gehalten hat. Deswegen bin ich ärgerlich.«
»Na, na,« sagte der Dichter lachend, »das müssen Sie mir noch erst erläutern, wie jemand dazu kommt, ein so betrübtes Gesicht zu machen, nur weil ihm der Schneider nicht Wort gehalten hat.«
»Und doch ist es sehr einfach«, antwortete Grey. »Ein Grund führt nämlich den andern herbei. Ich hatte mich zu heute abend mit einer jungen Dame verabredet, die ich in einer Gesellschaft treffen und nachher mit in meine Wohnung nehmen wollte. Zu der Gesellschaft kann ich nur im Frack gehen, und da ich keinen hatte, sollte mir der Schneider einen bringen. Er bringt mir aber keinen, ich kann nicht in die Gesellschaft gehen und die Dame treffen, die jetzt vielleicht jemand anders trifft und von ihm nach Hause geführt wird. Mir entgeht also ein Glück oder ein Vergnügen, und das ist der Grund, weshalb ich betrübt bin.«
»Schön«, sagte der Freund. »Sie sind also glücklich mit einem Fuß aus der Hölle heraus und wollen sich schon wieder in eine neue stürzen? Übrigens, mein lieber Freund, vorhin, als ich Sie sah, hatte ich den Eindruck, als ob Sie hier auf jemand warteten.« »Das tue ich auch tatsächlich.«
»Aber wir sind hier doch in dem Viertel, wo Ihre frühere Geliebte wohnt. Sollten Sie etwa auf diese lauern.«
»Ganz und gar nicht. Ich befinde mich nicht auf den Spuren meiner früheren Leidenschaft, sondern auf denen einer neuen. Es handelt sich um eine andere junge Dame, mit der ich mich schon halb verständigt habe.«
»Wirklich!« rief der Dichter. »Sie scheinen eine sehr verliebte Natur zu sein!«
»Ich kann es nicht ändern«, antwortete Grey. »Mein Herz gleicht einer möblierten Wohnung, die man weitervermietet, wenn der frühere Mieter sie verläßt. Wenn eine Liebe aus meinem Herzen auszieht, schlage ich einen Zettel an, um eine neue Liebe zu finden. Die Wohnung ist übrigens neu hergerichtet und gleich beziehbar.«
»Und wer ist die neue Göttin? Wo und wann haben Sie sie kennengelernt?«
»Erzählen wir es der Reihe nach«, sagte Grey. »Als Häsin mich verlassen hatte, glaubte ich, ich würde mich nie wieder in meinem Leben verlieben. Für mich war die Liebe tot, sehr tot, ganz und gar tot, und um sie feierlich zu begraben, gab ich ein kleines Trauermahl, zu dem ich einige Freunde einlud. Die Tischgenossen sollten betrübte Gesichter machen, und die Flaschen waren mit schwarzem Flor umbunden.«
»Mich haben Sie aber nicht eingeladen.«
»Verzeihung, aber ich wußte nicht die Adresse der Wolke, auf der Sie zu thronen pflegen. Nun, einer der Gäste hatte ein junges Mädchen mitgebracht, das ebenfalls vor kurzem von ihrem Geliebten verlassen war, und ein Freund von mir, der immer sehr stark auf dem Cello der Gefühlsseligkeit spielt, erzählte ihr meine Geschichte. Er sprach mit dieser jungen Witwe über die prächtigen Eigenschaften meines Herzens, das wir gerade begraben wollten, und lud sie ein, auf die ewige Ruhe dieses Herzens zu trinken. ›Ach was‹, sagte sie, indem sie ihr Glas erhob, ›ich trinke im Gegenteil auf sein fröhliches Weiterleben‹, und sie warf mir einen Blick zu, der wirklich Tote erwecken konnte. Jedenfalls wirkte der Blick bei mir so, denn sie hatte ihren Trinkspruch noch nicht beendigt, als ich auch schon einen Auferstehungskantus anstimmte. Oder hätten Sie an meiner Stelle anders gehandelt?«
»Eine nette Frage! … Wie heißt sie?«
»Das weiß ich noch nicht, ich werde sie erst nach ihrem Namen fragen, wenn wir unseren Ehebund schließen. Ich weiß sehr gut, dass ich nach der ehrsamen Ansicht gewisser Leute noch nicht die gesetzliche Trauerzeit hinter mir habe, aber ich werde bei mir selbst ein Gesuch einreichen und mir Dispens erteilen. Jedenfalls bringt mir meine Zukünftige als Mitgift ihren Frohsinn mit, der die Gesundheit der Seele, und ihre Gesundheit, die der Frohsinn des Körpers ist.«
»Ist sie hübsch?«
»Sehr hübsch, ihr Gesicht ist reizend. Man sollte glauben, sie schminke sich jeden Morgen mit dem Pinsel Watteaus:
Blond ist sie, Freund, und wo ihr Blick hingeht,Ein jedes Herz in hellen Flammen steht –
Beweis, das meinige!«
»Eine Blondine? Wirklich?«
»Ja, ich habe genug von Elfenbein und Ebenholz, ich gehe zu Blond über.«
»Arme Häsin,« sagte der Freund, »so schnell bist du vergessen!«
Zwei Tage später erfuhr Fräulein Goldener Hase, dass Red eine neue Geliebte hätte. Sie erkundigte sich vor allem nach einer Sache, ob er der neuen auch so häufig die Hand küsse wie früher ihr.
»Mindestens so oft«, antwortete Red. »Außerdem küßt er ihr auch noch die Haare, eins nach dem andern, und sie werden wohl zusammen bleiben, bis er mit allem durch ist.«
»Ach,« sagte Häsin und strich sich mit der Hand über ihre Frisur, »es ist nur ein Glück, dass er nicht schon bei mir auf den Gedanken gekommen ist, wir wären unser ganzes Leben lang zusammengeblieben. Glauben Sie wirklich, dass er mich gar nicht mehr liebt?«
»Bah! … Lieben Sie ihn denn noch?«
»Ich, ich habe ihn überhaupt noch nie geliebt.«
»Doch, Häsin, doch. Sie haben ihn in den Stunden geliebt, wo das Herz der Frauen sich hingibt. Sie haben ihn geliebt und brauchen sich nicht zu entschuldigen, denn gerade das spricht für Sie.«
»Ach was,« sagte Häsin, »jetzt liebt er aber doch eine andere.«
»Das ist wahr,« meinte Red, »aber das macht nichts. Später wird die Erinnerung an Sie für ihn einmal wie eine jener Blumen sein, die man ganz frisch und noch duftend zwischen die Blätter eines Buches legt. Man findet sie später erstorben, entfärbt, verwelkt, aber immer noch von einem leisen Duft ihrer ersten Frische erfüllt.«

Eines Abends sagte der Baron Donald zu Häsin, die mit leiser Stimme vor sich hinträllerte: »Was singen Sie da, lieber Schatz?«
»Das Grablied unserer Liebe, das mein Geliebter Red kürzlich gedichtet hat.« Und sie begann zu singen:
»Der letzte Einfall ist nun entschwunden,Das ist für uns ein wichtiger Scheidungsgrund,Und ohne Tränen nach so schönen Stunden,So trennen wir uns kühl von Bett und Mund.
Es war ein Kranz von wundervollen Tagen,Von Nächten, die durch Glück und Liebe hell,Und waren kurz sie auch – wozu da klagen?Die schönen Stunden schwinden immer schnell.«
XX. Romeo und Julia
Elegant wie ein Modekupfer aus seiner Zeitschrift ›Der Much Too Young‹, in Handschuhen und Lackschuhen, frisiert, mit gekräuseltem Schnurrbart, den Spazierstock in der Hand, das Monokel im Auge, strahlend, jung und einfach hübsch – so stand an einem Novemberabend unser Freund, der Dichter Grey, und wartete auf eine Droschke, um sich nach Hause fahren zu lassen.
Grey, der auf eine Droschke wartete? Was für ein Nostalgiestrom war da plötzlich in sein Leben hineingeflossen?
Zu dieser selben Stunde, da der verwandelte Dichter seinen Schnurrbart drehte und auf einer ungeheuren Regaliazigarre kaute, während seine Blicke nach schönen Damen ausschauten, kam auch einer seiner Freunde über den nämlichen Boulevard. Es war der Philosoph Brown. Red sah ihn kommen und erkannte ihn schnell, wie ihn ja jeder, der ihn nur einmal gesehen hatte, für immer im Gedächtnis behielt. Brown war wie stets mit einem Dutzend alter Scharteken beladen. In seinem unsterblichen braunen Mantel, bei dessen Unverwüstlichkeit man auf den Gedanken kam, er sei schon von den alten Römern erbaut, und in dem berühmten Hut mit den breiten Krempen, den man den Mambrinshut der modernen Philosophie nannte, ging Elias Brown mit langsamen Schritten dahin und deklamierte ganz leise das Vorwort zu einem Werk, das seit drei Monaten – in seiner Phantasie im Druck war. Als er sich der Stelle näherte, wo Red stand, glaubte ihn Brown einen Augenblick zu erkennen, aber die unendliche Eleganz, die der Dichter ausstrahlte, stürzte den Philosophen doch wieder in Zweifel und Ungewißheit.
»Red in Handschuhen mit einem Spazierstock! Halluzination, Utopie, Geistesverwirrung! Red frisiert – mit seinem kahlen Kopf! Wo hatte ich denn nur meine Augen? Übrigens wird zu dieser Stunde mein armer Freund dabei sein, in wehmütigen Versen den Verlust der jungen Häsin zu beklagen, die ihn ja verlassen haben soll. Eigentlich ist es schade, dass diese junge Schöne fort ist, sie verstand es ganz ausgezeichnet, den Kaffee zuzubereiten, diesen Trank erlesener Geister. Aber Red wird sich hoffentlich trösten und sich bald eine neue Kaffeemaschine anschaffen.«
Brown war über sein Wortspiel so entzückt, dass er sich am liebsten selbst Bravo! zugerufen hätte, aber in diesem Augenblick langte er dicht bei Red an und mußte sich hier vor der Macht der Tatsachen beugen. Es war doch Grey, frisiert, mit Handschuhen und Spazierstock! Das Unmögliche erwies sich als wahr.
»Donnerwetter!« rief Brown. »Ich täusche mich nicht. Das bist du, ich zweifle nicht mehr!«
»Ich auch nicht«, antwortete Grey.
Brown begann jetzt mit dem größten Erstaunen seinen Freund in Augenschein zu nehmen, und er bemerkte plötzlich zwei seltsame Gegenstände an ihm, über deren Zweck er nicht ins klare kam, nämlich eine Strickleiter und einen Käfig, in dem irgendein Vogel sich bewegte.
»Nun ja,« sagte Red zu seinem Freund, »ich sehe dir deutlich am Gesicht ab, wie du dich vor Neugierde verzehrst. Ich will dich zufriedenstellen. Aber wir wollen die Straße verlassen, es ist so kalt, dass deine Fragen und meine Antworten erfrieren würden.«
Und sie traten beide in ein Café hinein.
Die Augen Browns verließen indessen weder die Strickleiter noch den Käfig, in dem der kleine Vogel, den die Luft im Café erwärmt hatte, nunmehr zu singen anfing. Aber es war eine Sprache, die der polyglotte Brown durchaus nicht verstand.
»Zunächst,« fragte der Philosoph, indem er auf die Strickleiter wies, »was ist das?«
»Das ist ein Bindeglied zwischen meiner lieben Freundin und mir«, antwortete Red in einem singenden Ton.
»Und dies da?« fragte Brown und wies auf den Vogel.
»Das«, sagte der Dichter mit fast schmelzender Stimme, »ist eine Uhr.«
»Bitte sprich zu mir ohne poetische Vergleiche, in gemeiner Prosa, aber so, dass man es verstehen kann.«
»Gern. Hast du Shakespeare gelesen?«
»Ob ich ihn gelesen habe! To be or not to be. Er war ein großer Philosoph … Jawohl, ich habe ihn gelesen.«
»Erinnerst du dich an Romeo und Julia?«
»Ob ich mich daran erinnere!« sagte Brown.
Und er begann zu deklamieren:
»Willst du schon gehn? Der Tag ist ja noch fern.Es war die Nachtigall und nicht die Lerche,Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang …
Zum Donnerwetter, ich erinnere mich schon. Aber was soll das?« »Wie?« fragte Grey, indem er auf die Strickleiter und den Vogel wies. »Das begreifst du nicht? Es ist doch genau wie in dem Drama: Ich bin verliebt, mein Freund, verliebt in eine Frau, die Julia heißt.«
»Ja, und dann …?« fuhr Brown ungeduldig fort.
»Nun, da meine neue Göttin Julia heißt, so bin ich auf den Gedanken gekommen, mit ihr das Drama von Shakespeare zu spielen. Vor allem nenne ich mich nicht mehr Grey, sondern Romeo Montague, und du tust mir einen Gefallen, wenn du mich nie anders nennst. Ich werde mir übrigens, damit es die ganze Welt erfährt, neue Visitenkarten machen lassen. Aber das ist nicht alles, ich werde, da wir uns im Karneval befinden, die Gelegenheit benützen und ein Samtwams mit einem Degen tragen.«
»Um Tybald zu töten?« fragte Brown.
»Natürlich«, fuhr Red fort. »Die Strickleiter schließlich, die du hier siehst, benutze ich dazu, um zu meiner Geliebten zu gelangen, die zufällig wirklich einen Balkon besitzt.«
»Aber der Vogel, der Vogel?« fragte Brown hartnäckig.
»Nun, der Vogel, der eine Taube ist, soll die Rolle der Nachtigall spielen und mir jeden Morgen den genauen Zeitpunkt ansagen, wenn ich mich den angebeteten Armen meiner Geliebten entziehen will, und sie, indem sie meinen Hals umschlingt, mit ihrer süßen Stimme genau wie in der Balkonszene sagen wird: ›Nein, der Tag ist ja noch fern, es war die Lerche nicht …‹ mit anderen Worten: es ist noch nicht elf Uhr, die Straßen sind schmutzig, geh‘ noch nicht, wir haben es hier gemütlich! Um endlich die Nachahmung vollständig zu machen, werde ich sehen, dass ich eine Amme auftreibe, die ich zur Verfügung meiner Vielgeliebten stelle. Auch hoffe ich, dass der Kalender freundlich genug sein wird, mir von Zeit zu Zeit etwas Mondschein zu verschaffen, während ich den Balkon meiner Julia ersteige. Was sagst du zu meinem Plan, Philosoph?«
»Hübscher kann es nicht sein«, meinte Brown. »Aber könntest du mir nicht auch das Geheimnis deines eleganten Aussehens verraten, das dich ganz unkenntlich macht? … Du bist also reich geworden?«
Red antwortete nicht, aber indem er dem Kellner winkte, warf er ihm nachlässig ein Zwanzigfrankstück zu und sagte:
»Halten Sie ab!«
Dann klopfte er auf seine Börse, in der es zu klingen begann.
»Du hast wohl einen Glockenturm in der Tasche, dass das so klingt?«
»Nur ein paar Erinnerungen!«
»Erinnerungen?« fragte Brown mit einer vor Staunen erstickten Stimme. »Zeig‘ doch einmal eins her, wie sie aussehen.«
Dann trennten sich die beiden Freunde, Brown, um überall die Nachricht von Greys verschwenderischem Leben und seiner Liebe zu erzählen, der Dichter, um nach Hause zu fahren.
Dieses Zusammentreffen ereignete sich in der Woche nach dem zweiten Abbruch der Liebesbeziehungen zwischen Red und Häsin. Der Dichter hatte, als ihn seine Geliebte verlassen, das Bedürfnis empfunden, sein Logis zu wechseln, und war mit seinem Freund Grey in ein anderes Haus gezogen. Das Zimmer, das Red diesmal wählte, war unvergleichlich schöner als alle, die er früher gehabt hatte. Es gab hier fast anständige Möbel, vor allem ein Sofa, dessen roter Bezug sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Samt hatte.
Ferner standen auf dem Kamin zwei Porzellanvasen mit aufgemalten Blumen und in der Mitte eine Alabasterstanduhr mit schrecklichen Verzierungen. Red setzte die Vasen in einen Schrank, und da der Hauswirt gerade kam, um die Uhr, die stehengeblieben war, in Gang zu setzen, bat ihn der Dichter, es nicht zu tun.
»Ich habe nichts dagegen,« sagte er, »dass die Uhr auf dem Kamin bleibt. Aber sie bleibt nur als Kunstgegenstand. Sie zeigt jetzt gerade Mitternacht, das ist eine schöne Stunde, und darauf soll sie stehenbleiben! Am Tage, wo sie fünf Minuten nach zwölf anzeigt, ziehe ich aus.«
Wenige Tage später erstrahlte dieses Zimmer im hellsten Glanz und hallte von dem Lärm froher Gäste wider. Es wurde das Einweihungsfest gefeiert, und zahlreiche Flaschen erklärten die lustige Stimmung der Eingeladenen. Red selbst verfiel dem ansteckenden Frohsinn seiner Freunde, und in einem Winkel begann er einer zufällig erschienenen jungen Frau aufs zärtlichste den Hof zu machen. Gegen Ende des Festes waren sie so weit, dass sie für den folgenden Tag ein Zusammentreffen verabredeten.
Fräulein Julia fand sich auch am nächsten Abend pünktlich ein, doch kamen sie an dem Tage nicht über gegenseitige Erklärungen hinaus. Julia hatte erfahren, dass Red sich erst kürzlich von einem blauäugigen Mädchen, das er sehr geliebt, getrennt hatte. Sie wußte auch, dass einer früheren Trennung schon einmal eine Versöhnung gefolgt war, und wollte nicht das Opfer einer Wiederkehr der alten Liebe werden.
»Sehen Sie,« sagte sie mit einer hübschen, eigenwilligen Geste, »ich möchte nicht gern eine lächerliche Rolle spielen. Ich sage Ihnen jetzt schon, dass ich sehr böse werden kann. Bin ich erst einmal hier die Herrin, so bleibe ich auch und weiche nicht vom Platze.«
Red bot seine ganze Beredsamkeit auf, um sie zu überzeugen, dass ihre Furcht unbegründet sei, und sie kamen auch zu einer Verständigung. Aber sie ließ sich doch nicht davon abbringen, um Mitternacht aufzubrechen.
»Wozu diese Eile?« sagte sie. »Wir kommen doch dahin, wohin wir wollen, wenn wir uns auch unterwegs aufhalten. Ich bin morgen wieder da.«
Und so kam sie eine Woche lang jeden Abend, um, sobald es zwölf schlug, wieder fortzugehn.
Dieses kleine, gefühlvolle Vorspiel hatte zur Folge, dass Red sich tiefer in die Sache verstrickte, als er anfangs beabsichtigt hatte. Fräulein Julia arbeitete auch bewußt darauf hin, aus seiner anfänglichen Laune durch ihr geschicktes Widerstreben eine wirkliche Liebe zu entwickeln.
Bei jedem neuen Besuch, den sie Red machte, bemerkte sie in allem, was er sagte, seine zunehmende Neigung. Er zeigte, wenn sie sich etwas verspätete, jene bezeichnende Ungeduld, die das junge Mädchen entzückte, und er schrieb ihr sogar Briefe, deren Sprache in ihr die Hoffnung erweckte, dass sie demnächst seine legitime Geliebte werden würde.
Indessen bemerkte auch Grey, dass es jetzt nur noch an ihm lag, diesem kleinen Roman einen glücklichen Abschluß zu geben, und es geschah gerade hierbei, dass er auf den Gedanken kam, Shakespeare in seinem Liebesspiel von Romeo und Julia nachzuahmen. Seine zukünftige Geliebte fand die Idee herrlich und versprach, den Scherz voll und ganz mitzumachen.
Es war gerade an dem Abend, da die Vereinigung stattfinden sollte, als Red den Philosophen Brown traf. Der Dichter hatte soeben die seidene Strickleiter gekauft, um damit den Balkon seiner Julia zu erklettern. Der Vogelhändler, an den er sich wandte, besaß leider keine Nachtigall, und so erstand Red dafür eine Taube, von der man ihm sagte, dass sie jeden Morgen beim Beginn der Morgendämmerung sänge.
Zu Hause angekommen überlegte der Dichter, dass es keine so leichte Sache sei, an einer Strickleiter hinaufzuklettern, und dass es daher gut sei, die Balkonszene etwas einzuüben, wenn er nicht, ganz abgesehen von einem Absturz, Gefahr laufen wollte, in den Augen derer, die ihn erwartete, lächerlich und ungeschickt zu erscheinen. Er befestigte also seine Strickleiter an zwei Nägeln, die er gut in die Zimmerdecke geschlagen hatte, und verbrachte die ihm noch verbleibenden zwei Stunden mit turnerischen Übungen. Schließlich gelangte er nach unzähligen Versuchen so weit, dass er etwa zehn Sprossen erklettern konnte.
»Gut,« sagte er sich, »ich bin jetzt meiner Sache sicher. Und sollte ich übrigens wirklich steckenbleiben, so würde die Liebe mir Flügel verleihen.«
Und so begab er sich, mit der Strickleiter und dem Taubenkäfig beladen, zu Julia, die in seiner Nachbarschaft wohnte. Ihr Zimmer lag im Gartenhaus und besaß tatsächlich eine Art Balkon. Nur befand sich dieses Zimmer im Erdgeschoß, und so konnte man den Balkon auf die leichteste Art von der Welt ersteigen.
Red war auch äußerst verblüfft, als er diesen Zustand entdeckte, der sein ganzes poetisches Kletterprojekt zuschanden machte. »Es schadet nichts,« sagte er zu Julia, »wir können trotzdem die Balkonszene spielen. Hier ist ein Vogel, der uns morgen durch seine melodiöse Stimme wecken und uns den genauen Zeitpunkt sagen wird, wann wir uns verzweiflungsvoll voneinander trennen müssen.« Damit stellte Romeo seinen Käfig in eine Ecke des Zimmers.
Am andern Morgen um fünf Uhr tat die Taube auch ihre Schuldigkeit und erfüllte das ganze Zimmer mit einem anhaltenden Gurren, das die Liebenden sicher geweckt hätte, wenn sie überhaupt geschlafen hätten.
»Hörst du?« fragte Julia. »Jetzt ist der Augenblick da, um auf den Balkon zu gehen und uns verzweifelt voneinander zu verabschieden. Was hältst du davon?«
»Die Taube geht vor«, sagte Grey. »Wir sind im November, und da steht die Sonne erst um Mittag auf.«
»Das ist egal,« sagte Julia, »ich stehe jetzt auf.«
»Warum? Was willst du tun?«
»Mein Magen ist leer, und ich kann dir nicht verbergen, dass ich gerne etwas essen möchte.«
»Es herrscht doch eine wunderbare Harmonie in unseren Gefühlen, ich habe ebenfalls einen furchtbaren Hunger«, sagte Grey, indem er sich auch erhob und schnell in die Kleider schlüpfte.
Julia hatte schon Feuer angemacht und suchte in ihrem Speiseschrank nach eßbaren Dingen. Red half ihr beim Suchen.
»Halt,« sagte er, »Zwiebeln!«
»Und Speck«, sagte Julia.
»Und Butter.«
»Und Brot.«
Ach, das war alles!
Während ihres Suchens sang die Taube froh und unbesorgt auf ihrer Stange weiter.
Romeo sah Julia an, Julia sah Romeo an, dann richteten sie gemeinsam ihre Blicke auf die Taube.
Sie sagten sich weiter nichts. Das Schicksal der Taubenuhr war besiegelt. Und hätte sie auch Berufung eingelegt, es wäre vergebene Liebesmühe gewesen, denn der Hunger ist ein grausamer Richter.
Red hatte ein Kohlenfeuer angezündet und briet Speck in zerlassener Butter. Er machte eine ernste und feierliche Miene.
Julia enthäutete in melancholischer Haltung Zwiebeln.
Die Taube sang noch immer, es war ihr Schwanengesang.
Und als Begleitung zu diesem Sterbelied zischte die Butter in der Pfanne.
Fünf Minuten später sang nur noch die Butter, die Taube war verstummt.
Romeo und Julia hatten ihre Uhr in einen Braten verwandelt. »Sie hatte eine hübsche Stimme«, sagte Julia, indem sie sich an den Tisch setzte.
»Sie war ein zartes Wesen«, meinte Romeo und zerschnitt seine braungebratene Weckeruhr.
Die beiden Liebenden sahen sich an, und zu ihrem Staunen bemerkten sie jeder eine Träne im Auge des andern.
… Diese Heuchler! Es waren die Zwiebeln, die sie zum Weinen gebracht hatten.